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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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zerlumpte Bittsteller um ihre Füße herumkrochen.
    »Ich habe das Geld dabei«, antwortete Rose und drückte Hepzibah die Hälfte ihres Wochenlohns in die Hand.
    »Ich hab sie grad gefüttert. Kann den Hals gar nicht voll kriegen, die Kleine. Kaum hab ich sie angelegt, hat sie mir fast schon die Brust leer gesaugt. Hab noch nie ein Baby gehabt, das solche Unmengen trinkt. Eigentlich müsste ich für die mehr verlangen.«
    Rose kniete sich hin, um ihre Nichte aus dem Körbchen zu heben, und dachte: Mein süßes Baby, wie ich mich freue, dich zu sehen! Die kleine Meggie sah mit großen Augen zu ihr auf, und Rose hätte schwören können, dass ihr winziges Mündchen sich zu einem Begrüßungslächeln formte. O ja, du erkennst mich, nicht wahr? Du weißt, dass ich die Einzige bin, die dich liebt.
    Es gab keine anderen Sitzgelegenheiten im Zimmer, also ließ Rose sich auf den verdreckten Boden nieder, mitten unter
die Schar der Kinder, die darauf warteten, dass ihre Mütter von der Arbeit zurückkamen und sie von Hepzibahs gleichgültiger Aufsicht erlösten. Wenn ich es mir nur leisten könnte, dich besser unterzubringen, Meggie, dachte sie, während sie mit ihrer kleinen Nichte spielte und ihr ein fröhliches Glucksen entlockte. Wenn ich doch nur ein bequemes, sauberes Zimmer hätte, wo ich deine Wiege neben meinem Bett aufstellen könnte. Aber das Zimmer in der Fishery Alley, das Rose sich mit zwölf anderen Mietern teilte, war noch schlimmer: von Ratten befallen und verpestet von Krankheiten. Nie dürfte sie Meggie einer solchen Umgebung aussetzen. Da war es viel besser, wenn sie hier bei Hepzibah blieb, deren üppige Brüste nie versiegten. Hier hatte sie es wenigstens warm und musste keinen Hunger leiden. Solange Rose das Geld beschaffen konnte.
    Nur mit dem größten Widerwillen legte sie Meggie schließlich in das Körbchen zurück und stand auf, um zu gehen. Die Nacht war hereingebrochen, und Rose war erschöpft und hungrig. Meggie hätte nichts davon, wenn ihre einzige Stütze in der Welt krank würde und nicht mehr arbeiten könnte.
    »Ich komme morgen wieder«, sagte Rose.
    »Und nächste Woche noch mal das Gleiche«, erwiderte Hepzibah. Sie meinte natürlich das Geld. Bei ihr drehte sich alles nur ums Geld.
    »Sie bekommen es. Passen Sie nur gut auf sie auf.« Rose blickte sich sehnsüchtig nach dem Baby um und fügte leise hinzu: »Sie ist alles, was mir geblieben ist.«
    Sie trat hinaus auf die Straße. Es war jetzt dunkel, und das einzige Licht spendeten die Kerzen, die hinter rußigen Fensterscheiben schimmerten. Als sie um die Ecke bog, verlangsamte sich ihr Schritt, bis sie schließlich stehen blieb.
    Vor ihr in der Gasse wartete eine wohlbekannte Gestalt. Der einfältige Billy winkte und kam auf sie zu, wobei er seine unglaublich langen Arme schwang wie Tentakel. Aber es war nicht Billy, den sie anstarrte, sondern der Mann, der hinter ihm stand.

    »Miss Connolly«, sagte Norris Marshall. »Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    Sie sah Billy verärgert an. »Hast du ihn hierhergebracht?«
    »Er hat gesagt, er ist Ihr Freund.«
    »Glaubst du denn alles , was man dir erzählt?«
    »Ich bin Ihr Freund«, sagte Norris.
    »Ich habe in dieser Stadt keine Freunde.«
    »Und was ist mit mir?«, fragte Billy mit weinerlicher Stimme.
    »Außer dir«, verbesserte sie sich. »Aber jetzt weiß ich, dass ich dir nicht trauen kann.«
    »Er ist ja nicht von der Nachtwache. Sie haben mich bloß vor denen gewarnt.«
    »Sie wissen doch«, warf Norris ein, »dass Mr. Pratt Sie sucht? Sie wissen, was er über Sie sagt?«
    »Er hat behauptet, ich sei eine Diebin. Wenn nicht Schlimmeres.«
    »Und Mr. Pratt ist ein Hanswurst.«
    Ein grimmiges Lächeln war ihre Reaktion. »Da haben wir etwas gemeinsam – ich bin der gleichen Meinung.«
    »Wir haben noch etwas gemeinsam, Miss Connolly.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein soll.«
    »Ich habe ihn auch gesehen«, sagte er leise. »Den Reaper.«
    Sie starrte ihn an. »Wann?«
    »Letzte Nacht. Er stand bei der Leiche von Mary Robinson.«
    »Schwester Robinson?« Sie wich einen Schritt zurück – die schockierende Nachricht traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. »Mary ist tot?«
    »Das wussten Sie nicht?«
    »Ich wollt’s Ihnen sagen, Miss Rose«, warf Billy eifrig ein. »Ich hab’s heut Morgen gehört, drüben im West End. Sie haben sie aufgeschlitzt, genau wie Schwester Poole!«
    »Die Nachricht hat sich in der Stadt verbreitet wie ein Lauffeuer«, sagte Norris.

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