Leichenraub
»Ich wollte mit Ihnen sprechen, ehe Ihnen irgendeine verzerrte Version der Ereignisse zu Ohren kommt.«
Der Wind pfiff durch die Gasse, und die Kälte drang wie Nägel durch ihren Mantel. Als sie das Gesicht abwandte, um es vor der eisigen Bö zu schützen, löste sich ihr Haar aus dem Kopftuch und peitschte ihre tauben Wangen.
»Können wir uns irgendwo unterhalten, wo es warm ist?«, fragte er. »Und wo wir ungestört sind?«
Sie wusste nicht, ob sie diesem Mann vertrauen konnte. An dem Tag, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren, am Krankenbett ihrer Schwester, war er höflich zu ihr gewesen; der Einzige in diesem Kreis von Studenten, in dessen Blick sie wahre Achtung gelesen hatte. Sie wusste nichts über ihn – nur, dass sein Rock von minderer Qualität war, seine Ärmelaufschläge ausgefranst. Sie blickte sich auf der Gasse um, während sie überlegte, wo sie hingehen könnten. Um diese Zeit ging es in den Schenken und Kaffeehäusern sehr laut zu, und es gab dort zu viele Augen, zu viele Ohren.
»Kommen Sie mit mir«, sagte sie.
Ein paar Straßen weiter bog sie in eine dunkle Passage ein und schlüpfte in einen Hauseingang. Im Treppenhaus stank es nach gekochtem Kohl, und an der Wand brannte ein einsamer Leuchter, dessen Flamme heftig erzitterte, als der Wind die Tür zuschlug.
»Unser Zimmer ist oben«, sagte Billy und sprang vor ihnen die Stufen hinauf.
Norris sah Rose an. »Er wohnt bei Ihnen?«
»Ich konnte ihn doch nicht weiter in der kalten Scheune schlafen lassen«, sagte sie. Sie hielt inne, um eine Kerze an dem Wandleuchter zu entzünden, und stieg die Treppe hinauf, wobei sie mit der Hand die Flamme abschirmte. Norris folgte ihr, und nachdem sie ein Dutzend knarrende Stufen erklommen hatten, gelangten sie in den düsteren, stinkenden Raum, der die dreizehn Mieter beherbergte. Im Schein der Kerze wirkten die Decken, die lose zwischen den einzelnen Strohmatratzen aufgehängt waren, wie ein Regiment von Gespenstern. Einer der Mieter lag in einer dunklen Ecke, und obwohl er selbst im Schatten verborgen war, hörten sie ihn unablässig husten.
»Ist er krank?«
»Er hustet Tag und Nacht.«
In gebückter Haltung, um nicht mit dem Kopf an die niedrigen Deckenbalken zu stoßen, schlängelte Norris sich zwischen den Matratzen hindurch und kniete neben dem Kranken nieder.
»Der alte Clary ist zu schwach zum Arbeiten«, erklärte Billy. »Deswegen bleibt er den ganzen Tag im Bett.«
Norris sagte nichts, doch zweifellos war ihm klar, was das blutbefleckte Bettzeug bedeutete. Clarys bleiches Gesicht war von der Schwindsucht so ausgezehrt, dass die Knochen durch die Haut zu schimmern schienen. Man musste nur in seine eingesunkenen Augen schauen und das Rasseln seiner verschleimten Lunge hören, um zu wissen, dass hier nichts mehr zu machen war.
Wortlos richtete Norris sich wieder auf.
Rose bemerkte seinen Gesichtsausdruck, als er sich im Zimmer umsah und den Blick über die Kleiderbündel schweifen ließ, über die Strohhaufen, die als Betten dienten. In den dunklen Ecken hörte man ein Rascheln und Trippeln, und Rose hob den Fuß, als etwas Schwarzes vor ihr über den Boden huschte. Sie spürte, wie es unter ihrer Sohle knirschte. Ja, Mr. Marshall, dachte sie, hier wohne ich, in dieser Bude, in der es vor Ungeziefer wimmelt, mit einem stinkenden Eimer, in den alle ihre Notdurft verrichten; hier schlafe ich auf dem Boden, wo die Mieter so dicht gedrängt liegen, dass man aufpassen muss, wie man sich dreht, um nicht einen Ellbogen ins Auge zu bekommen oder mit den Haaren an einem dreckigen Fuß hängen zu bleiben.
»Hier drüben ist mein Bett!«, erklärte Billy und ließ sich auf einen Haufen Stroh plumpsen. »Wenn wir den Vorhang zuziehen, haben wir ein richtiges kleines Zimmer für uns allein. Sie können sich dorthin setzen, Sir. Die alte Polly wird nicht merken, dass jemand ihr Bett benutzt hat.«
Norris schien nicht sonderlich erpicht darauf, sich auf das Bündel aus Lumpen und Stroh niederzulassen. Während Rose
den Vorhang zuzog, damit sie nicht von dem sterbenden Mann in der Ecke gestört wurden, starrte Norris auf Pollys Bett, als frage er sich, wie viele ungebetene Gäste er sich wohl einhandeln würde, wenn er sich darauf setzte.
»Warten Sie!« Billy sprang auf, lief davon und kam Augenblicke später wieder zurück, in der Hand einen überschwappenden Wassereimer. »Jetzt können Sie die Kerze hinstellen.«
»Er fürchtet sich vor dem Feuer«, sagte Rose, während sie die
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