Leichenraub
sechzig Jahre alt war. Darin vermacht sie ihren Besitz ihren diversen Enkelkindern. Darunter ist auch ein Mädchen namens Aurnia.«
»Aurnia?«
»Ein ungewöhnlicher Name, nicht wahr? Ich denke, das bestätigt zweifelsfrei, dass es sich bei Margaret Tate Page um unser Baby Meggie handelt, zur Frau herangewachsen.«
»Dann ist die Tante, die Holmes in seinem ersten Brief erwähnt …«
»Rose Connolly.«
Julia ging zurück in ihre Küche und sah in den Garten hinaus, auf dasselbe Stück Land, das eine andere, längst verstorbene Frau einst erblickt hatte, wenn sie aus ihrem Fenster gesehen hatte. Wer lag all die Jahre in meinem Garten begraben?
War es Rose?
17
1830
Das Licht, das durch die schmutzige Fensterscheibe fiel, war zu einem trüben Zinngrau verblasst. Nie gab es genug Kerzen in der Schneiderwerkstatt, und Rose konnte kaum ihre Stiche sehen, während die Nadel rhythmisch durch die weiße Gaze fuhr. Das Unterkleid aus blassrosa Satin hatte sie bereits fertig, und auf ihrem Werktisch lagen die seidenen Rosen und Schleifen, die noch an den Schultern und an der Taille angenäht werden mussten. Es war ein feines Ballkleid, und während Rose daran arbeitete, stellte sie sich vor, wie die Röcke rascheln würden, wenn die Trägerin die Tanzfläche betrat, wie die Satinschleifen an der abendlichen Festtafel glänzen würden. Es würde Weinpunsch in Kristallpokalen geben, Austerncreme und Ingwerkekse, und alle könnten sich satt essen, niemand würde hungrig nach Hause gehen. Sie selbst würde nie einen solchen Abend erleben, aber dafür das Kleid, das sie nähte; und mit jedem Stich nähte sie einen kleinen Teil von sich selbst hinein, eine Spur von Rose Connolly, die in den Falten von Satin und Gaze verbleiben und mit ihnen durch den Ballsaal wirbeln würde.
Das Licht im Fenster war jetzt nur noch ein schwacher Schimmer, und sie musste sich anstrengen, um den Faden zu erkennen. Irgendwann würde sie auch so aussehen wie die anderen Frauen in diesem Raum: die Augen verkniffen und schielend, die Finger schwielig und vernarbt von zahllosen Nadelstichen. Und wenn sie sich am Ende des Tages erhoben, blieb ihr Rücken gebeugt, als hätten sie es ganz und gar verlernt, aufrecht zu stehen.
Die Nadel bohrte sich in Roses Finger. Sie hielt erschrocken
die Luft an und ließ die Gaze auf den Nähtisch fallen. Als sie den pochenden Finger an den Mund führte, schmeckte sie Blut; doch es war nicht der Schmerz, der sie beunruhigte; vielmehr fürchtete sie, dass die weiße Gaze einen Fleck abbekommen haben könnte. Sie hielt den Stoff hoch, um den letzten schwachen Lichtstrahl einzufangen, und konnte gerade so in einer Falte des Saums einen dunklen Punkt ausmachen, so winzig, dass er mit Sicherheit keinem Menschen auffallen würde. Meine Stiche und mein Blut, dachte sie; beides hinterlasse ich auf diesem Kleid.
»Schluss für heute, meine Damen«, verkündete der Aufseher.
Rose faltete die Kleider, an denen sie gearbeitet hatte, zusammen und legte sie auf den Tisch, um am nächsten Tag daran weiterzuarbeiten. Dann reihte sie sich in die Schlange der Frauen ein, die darauf warteten, ihren Wochenlohn ausgezahlt zu bekommen. Während sie sich alle in ihre Mäntel und Tücher hüllten, bevor sie sich auf den kalten Nachhauseweg machten, winkten einige Rose zum Abschied zu oder nickten flüchtig in ihre Richtung. Sie kannten sie noch nicht sehr gut, und sie wussten auch nicht, wie lange sie bei ihnen bleiben würde. Zu viele andere Mädchen waren schon gekommen und gegangen, und zu oft waren die Versuche, mit ihnen Freundschaft zu schließen, ins Leere gelaufen. Also beobachteten sie nur und warteten ab; vielleicht, weil sie spürten, dass Rose es nicht lange aushalten würde.
»Du da, Mädchen! Rose, nicht wahr? Ich muss mit dir reden.«
Mit bangem Herzen wandte Rose sich zu ihrem Aufseher um. Was hatte Mr. Smibart heute wohl wieder an ihr zu bemäkeln? Denn gewiss hatte er etwas zu bemäkeln mit seiner unangenehm näselnden Stimme, über die die Mädchen hinter seinem Rücken kicherten.
»Ja, Mr. Smibart?«, erwiderte sie.
»Es ist schon wieder passiert«, sagte er. »Und es kann nicht geduldet werden.«
»Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Wenn meine Arbeit nicht zufriedenstellend ist …«
»Deine Arbeit ist durchaus brauchbar.« Aus Mr. Smibarts Mund war durchaus brauchbar geradezu ein Kompliment, und sie gestattete sich einen kleinen Seufzer der Erleichterung, da zumindest
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