Leichenraub
Schritte zu hören, und Rose spannte sich an, als sie das Gekicher einer Frau hörte, untermalt vom Lachen eines Mannes. Eine der Bewohnerinnen hatte einen Freier nach oben gelockt. Rose war klar, dass der Frau nichts anderes übrig blieb; sie wusste, dass ein paar Minuten mit gespreizten Beinen den Unterschied zwischen einem vollen und einem knurrenden Magen ausmachen konnten. Aber die Geräusche, die das Paar auf der anderen Seite des dünnen Vorhangs von sich gab, trieben Rose die Schamröte ins Gesicht. Sie brachte es nicht über sich, Norris anzusehen, sondern starrte auf ihre Hände hinunter, die Finger im Schoß verschränkt, während die beiden stöhnten
und ächzten und das Stroh unter ihren rhythmischen Bewegungen raschelte. Und die ganze Zeit über kam aus der Ecke das Husten des todkranken Mannes, der seinen blutigen Schleim auswarf.
»Und deswegen halten Sie sich versteckt?«, fragte Norris.
Widerstrebend hob sie die Augen auf und fand, dass er sie unverwandt ansah, als sei er entschlossen, das Treiben des Paares und das Sterben zu ignorieren, das sich nur wenige Schritte von ihnen entfernt vollzog – als seien sie hinter der schmutzigen Decke in ihrer eigenen Welt eingeschlossen, in der seine ganze Aufmerksamkeit allein ihr galt.
»Ich verstecke mich, um mir und allen Beteiligten Ärger zu ersparen, Mr. Marshall.«
»Auch der Nachtwache? Sie behauptet, Sie hätten ein Schmuckstück versetzt, das Ihnen nicht gehörte.«
»Meine Schwester gab es mir.«
»Mr. Pratt sagt, Sie hätten es gestohlen. Sie hätten es ihr weggenommen, als sie im Sterben lag.«
Sie schnaubte abschätzig. »Das ist das Werk meines Schwagers. Eben ist auf Rache aus, also streut er Gerüchte über mich. Selbst wenn es wahr wäre, selbst wenn ich es tatsächlich an mich genommen hätte, wäre ich nicht verpflichtet gewesen, es ihm zu geben. Wie sonst hätte ich Aurnias Beerdigung bezahlen sollen?«
»Ihre Beerdigung? Aber sie …« Er brach ab.
»Was ist mit Aurnia?«, fragte sie.
»Nichts. Es ist nur … ein ungewöhnlicher Name, das ist alles. Ein sehr schöner Name.«
Sie lächelte betrübt. »Es war der Name unserer Großmutter. Er bedeutet ›goldene Dame‹. Und meine Schwester war wirklich eine goldene Dame, ein Glückskind. Bis zu ihrer Heirat.«
Hinter dem Vorhang steigerte sich das Tempo des Stöhnens, begleitet vom lauten Klatschen von Haut auf nackter Haut. Rose konnte Norris nicht mehr in die Augen sehen. Stattdessen starrte sie auf ihre Schuhe, auf den strohbedeckten
Boden. Ein Insekt kroch aus der Matratze, auf der Norris saß. Sie fragte sich, ob er es überhaupt bemerkte, und musste gegen den Impuls ankämpfen, es zu zerquetschen.
»Aurnia hatte Besseres verdient«, sagte Rose leise. »Aber am Ende war ich die Einzige, die an ihrem Grab stand. Und Mary Robinson.«
»Schwester Robinson war dort?«
»Sie war gut zu meiner Schwester, zu allen Menschen. Anders als Miss Poole. Oh, die habe ich gar nicht leiden können, das gebe ich zu, aber Mary war anders.« Sie schüttelte traurig den Kopf.
Das Paar hinter dem Vorhang war jetzt fertig, und das Lustgestöhn wich erschöpftem Keuchen. Rose beachtete die beiden längst nicht mehr; sie dachte an ihre letzte Begegnung mit Mary Robinson zurück, auf dem Friedhof von St. Augustine. Sie erinnerte sich an die nervösen Blicke der Frau, ihre zitternden Hände. Und daran, wie sie plötzlich ohne Abschied verschwunden war.
Billy blinzelte und setzte sich auf. Schmutzige Strohhalme rieselten aus seinen Haaren, als er sich am Kopf kratzte. Er sah Norris an. »Schlafen Sie jetzt hier bei uns?«, fragte er.
Rose errötete. »Nein, Billy. Das tut er nicht.«
»Ich kann mein Bett woanders aufschlagen, um Platz für Sie zu machen«, meinte Billy. Und dann fügte er mit eifersüchtigem Unterton hinzu: »Aber ich bin der Einzige, der neben Miss Rose schlafen darf. Das hat sie mir versprochen.«
»Ich würde nicht im Traum daran denken, dir deinen Platz wegzunehmen, Billy«, sagte Norris. Er stand auf und klopfte sich das Stroh von der Hose. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe, Miss Connolly. Danke für das Gespräch.« Er zog den Vorhang zur Seite und begann die Treppe hinunterzugehen.
»Mr. Marshall?« Rose sprang hastig auf und lief ihm nach. Er war schon am Fuß der Treppe angelangt und hatte die Hand an der Türklinke. »Ich muss Sie bitten, nicht mehr an meinem Arbeitsplatz nach mir zu fragen«, sagte sie.
Er sah fragend zu ihr
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