Leichenraub
blickte sich im Saal um. »In den folgenden Monaten werden Sie das soeben Geschilderte selbst sehen, fühlen und riechen können. Manche behaupten, es handle sich um eine Seuche wie die Pocken. Aber wenn dem so ist, warum greift sie dann nicht auf die Frauen über, welche die Patientinnen pflegen, oder auf andere Frauen, die nicht schwanger sind? Andere sprechen von einem Miasma, schädliche Ausdünstungen in der Luft. Und in der Tat, welche andere Erklärung könnte es dafür geben, dass Tausende Frauen dieser Krankheit zum Opfer fallen, sei es in Frankreich, in Ungarn oder in England?
Auch hier bei uns beobachten wir eine starke Zunahme der Fälle. Beim jüngsten Treffen der Boston Society for Medical Improvement haben meine Kollegen alarmierende Zahlen vorgelegt. Ein Arzt verlor in rascher Folge fünf Patientinnen.
Und ich habe allein in diesem Monat deren sieben verloren.«
Wendell beugte sich vor und zog die Stirn in Falten. »Mein Gott«, murmelte er. »Es ist wahrhaftig eine Epidemie.«
»Die Furcht vor dieser Krankheit ist inzwischen so groß, dass viele werdende Mütter sich in ihrer Unwissenheit entschließen, nicht ins Krankenhaus zu gehen. Doch im Krankenhaus erwarten sie weit bessere Bedingungen als in ihren schmutzigen Behausungen, wo kein Arzt ihnen beisteht.«
Wendell stand unvermittelt auf. »Eine Frage, Sir. Wenn Sie gestatten?«
Crouch blickte auf. »Ja, Mr. Holmes?«
»Gibt es auch in den Elendsvierteln eine solche Epidemie? Unter der irischen Bevölkerung in South Boston?«
»Noch nicht.«
»Aber so viele dieser Menschen leben in Schmutz und Unflat. Ihre Ernährung ist mangelhaft, ihre Lebensbedingungen sind in jeder Hinsicht entsetzlich. Müsste es unter diesen Umständen nicht besonders viele solcher Todesfälle geben?«
»Die Armen haben eine andere Konstitution. Das ist ein zähes Volk.«
»Ich habe gehört, dass Frauen, die plötzlich auf der Straße oder auf dem Feld niederkommen, nur selten an dem Fieber erkranken. Liegt das auch an ihrer kräftigeren Konstitution?«
»Das ist meine Theorie. Ich werde in den kommenden Wochen noch mehr dazu sagen.« Er hielt inne. »Aber nun kommen wir zu Dr. Sewalls anatomischer Übung. Sein heutiges Anschauungsobjekt ist, ich bedaure, es sagen zu müssen, eine meiner eigenen Patientinnen, eine junge Frau, die ebenjener Krankheit erlegen ist, die ich soeben beschrieben habe. Ich möchte nun Dr. Sewall bitten, den anatomischen Befund zu demonstrieren.«
Während Dr. Crouch Platz nahm, bestieg Dr. Sewall das Podium. Die Holzstufen knarrten unter seiner beachtlichen Leibesfülle.
»Was Sie soeben gehört haben«, begann Sewall, »ist die
klassische Beschreibung des Kindbettfiebers. Nun sollen Sie die Pathologie dieser Krankheit kennenlernen.« Er hielt inne und blickte sich im Auditorium um. »Mr. Lackaway! Würden Sie bitte herunterkommen und mir assistieren?«
»Sir?«
»Sie haben sich bis jetzt noch nicht freiwillig zu einer anatomischen Übung gemeldet. Das ist Ihre Chance.«
»Ich glaube nicht, dass ich die beste Wahl bin …«
Edward, der hinter Charles saß, sagte: »Ach, nun komm schon, Charlie.« Er gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Ich verspreche dir auch, dass dich diesmal jemand auffängt, wenn du in Ohnmacht fällst.«
»Ich warte, Mr. Lackaway«, sagte Sewall.
Charles schluckte hörbar. Dann erhob er sich und ging widerstrebend hinunter zum Podium.
Sewalls Assistent schob den Leichnam herein und zog das Laken weg. Charles prallte zurück, den Blick starr auf die junge Frau gerichtet. Schwarzes Haar wallte über den Rand des Tisches, und ein weißer, schlanker Arm hing schlaff an der Seite herab.
»Das wird ein Spaß«, meinte Edward, der sich vorgebeugt hatte und in Wendells Ohr flüsterte. »Was schätzt du, wie lange es dauert, bis er umkippt? Wollen wir wetten?«
»Das ist nicht witzig, Edward.«
» Noch nicht.«
Auf dem Podium deckte Sewall das Tablett mit seinen Instrumenten auf. Er wählte ein Skalpell und drückte es Charles in die Hand, der das Instrument anstarrte, als hätte er noch nie ein Messer gesehen. »Wir werden keine vollständige Autopsie durchführen, sondern uns auf die Pathologie dieser spezifischen Krankheit konzentrieren. Sie haben die ganze Woche an einem Leichnam gearbeitet, sodass die Sektion Ihnen inzwischen leicht von der Hand gehen dürfte.«
»Ich gebe ihm zehn Sekunden, dann liegt er flach«, murmelte Edward.
»Psst!«, zischte Wendell.
Charles trat an den Leichnam heran. Selbst
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