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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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von seinem Platz aus konnte Norris sehen, wie die Hand seines Kommilitonen zitterte.
    »Das Abdomen«, sagte Sewall. »Setzen Sie den Schnitt.«
    Charles drückte die Klinge auf die Haut. Das ganze Auditorium schien den Atem anzuhalten, während er noch zögerte. Mit einer angewiderten Grimasse zog er die Klinge senkrecht über den Unterleib des Leichnams, allerdings so oberflächlich, dass die Haut sich nicht einmal teilte.
    »Sie müssen schon etwas beherzter zu Werke gehen«, sagte Sewall.
    »Ich … ich habe Angst, ich könnte etwas Wichtiges beschädigen.«
    »Sie sind noch nicht einmal bis zum subkutanen Fettgewebe durchgedrungen. Schneiden Sie tiefer.«
    Charles hielt inne und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Wieder setzte er das Skalpell an. Wieder war der Schnitt zu flach und zu zögerlich, sodass die Bauchwand größtenteils intakt blieb.
    »Auf diese Weise werden Sie sie ganz in Stücke schneiden, bevor Sie endlich in der Bauchhöhle sind.«
    »Ich möchte nicht den Darm auftrennen.«
    »Sehen Sie, an dieser Stelle sind Sie schon durchgedrungen, oberhalb des Umbilicus. Stecken Sie den Finger hinein und kontrollieren Sie Ihren Schnitt.«
    Obwohl es im Saal nicht sehr warm war, wischte Charles sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Dann straffte er mit einer Hand die Bauchwand, um ein drittes Mal zum Schnitt anzusetzen. Rosafarbene Darmschlingen glitten heraus, von denen blutige Flüssigkeit auf den Boden troff. Charles schnitt weiter, und seine Klinge erweiterte stetig die Öffnung, aus der die Gedärme hervorquollen. Ein übler Fäulnisgeruch entstieg der Bauchhöhle, und er wandte das Gesicht ab, bleich vor Übelkeit.
    »Passen Sie doch auf!«, schnauzte Sewall. »Sie haben den Darm geritzt!«

    Charles zuckte zusammen, das Skalpell fiel ihm aus der Hand und schlug polternd auf die Dielen. »Ich habe mich geschnitten!«, wimmerte er. »In den Finger!«
    Sewall stöhnte entnervt auf. »Also schön, dann ab mit Ihnen. Setzen Sie sich, ich werde die Demonstration selbst zu Ende führen.«
    Die Wangen glühend vor Scham und Erniedrigung, schlich Charles sich vom Podium und kehrte an seinen Platz zurück.
    »Alles in Ordnung, Charlie?«, flüsterte Wendell.
    »Ich habe mich unmöglich angestellt.«
    Von hinten schlug ihm eine Hand auf die Schulter. »Sieh es doch einmal positiv«, meinte Edward. »Wenigstens bist du diesmal nicht in Ohnmacht gefallen.«
    »Mr. Kingston!«, dröhnte Dr. Sewalls Stimme vom Podium. »Möchten Sie vielleicht Ihren Kommentar noch einmal für alle wiederholen?«
    »Nein, Sir.«
    »Dann seien Sie so freundlich und passen Sie auf. Diese Frau hat ihren Körper selbstlos der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Das Mindeste, was Sie tun könnten, wäre, ihr durch Ihr Schweigen Ihren Respekt zu erweisen.« Dr. Sewall wandte sich wieder der Leiche zu, deren Bauchhöhle weit geöffnet war. »Sie sehen hier das freigelegte Bauchfell oder Peritoneum, dessen Erscheinungsbild völlig abnorm ist. Es ist getrübt. Bei einem gesunden jungen Soldaten, der einen schnellen Tod in der Schlacht gestorben ist, sind diese Membranen hell und glänzend. Bei Fällen von Kindbettfieber jedoch erscheint das Peritoneum glanzlos, und es finden sich Ansammlungen einer hellen, zähen Flüssigkeit, die so übel riecht, dass es selbst dem abgehärtetsten Anatomen den Magen umdreht. Ich habe Abdomen gesehen, wo die Organe geradezu in dieser Brühe schwammen und die Eingeweide zahlreiche Einblutungen aufwiesen. Wir können uns nicht erklären, was die Ursache dieser Veränderungen ist. In der Tat sind, wie Dr. Crouch bereits ausgeführt hat, die Theorien über die Ursachen des Kindbettfiebers Legion. Ist es mit Wundrose oder Typhus verwandt? Ist
es ein Zufall oder vielmehr Vorsehung, wie Dr. Meigs aus Philadelphia glaubt? Ich bin nur ein einfacher Anatom. Ich kann Ihnen lediglich zeigen, was ich mit meinem Skalpell freigelegt habe. Indem sie ihre sterblichen Überreste für Studienzwecke zur Verfügung stellte, hat diese Verstorbene jedem von Ihnen kostbares Wissen geschenkt.«
    Ein Geschenk kann man das wohl kaum nennen, dachte Norris. Dr. Sewall lobte regelmäßig die Unglücklichen, die auf seinem Seziertisch landeten, in den höchsten Tönen. Er nannte sie edel und selbstlos, als hätten sie sich freiwillig zur Verfügung gestellt, um öffentlich aufgeschnitten und ausgeweidet zu werden. Aber diese Frau war keine Freiwillige; sie war ein Wohlfahrtsfall, und weder Verwandte noch Freunde hatten auf ihren

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