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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hinauf. »Wie bitte?«
    »Sie gefährden meinen Lebensunterhalt, wenn Sie das tun.«
    »Ich war nie an Ihrer Arbeitsstätte.«
    »Ein Mann war heute dort und hat sich erkundigt, wo ich wohne.«
    »Ich weiß ja nicht einmal, wo Sie arbeiten.« Er öffnete die Tür und ließ einen Windstoß herein, der an seinem Rock zerrte und Roses Rocksaum flattern ließ. »Wer immer sich nach Ihnen erkundigt hat, ich war es nicht.«
     
    An diesem kalten Abend verschwendet Dr. Nathaniel Berry keinen Gedanken an den Tod.
    Vielmehr steht ihm der Sinn danach, sich ein williges Weibsbild zu suchen, und warum auch nicht? Er ist jung, und er arbeitet jeden Tag viele Stunden als Assistenzarzt im Krankenhaus. Er hat keine Zeit, Frauen in der Weise zu umwerben, wie es von einem Gentleman erwartet wird; keine Zeit für höfliches Geplauder bei Soireen und Hausmusikabenden, keine freien Nachmittage für romantische Spaziergänge auf der Colonnade Row. In diesem Jahr dreht sich für ihn alles um die Patienten im Massachusetts General, und das vierundzwanzig Stunden am Tag. Nur selten ist es ihm vergönnt, einen Abend außerhalb des Krankenhausgeländes zu verbringen.
    Aber heute Abend ist ihm zu seiner Überraschung eine seltene Nacht in Freiheit geschenkt worden.
    Wenn ein junger Mann seine natürliche Triebe zu lange unterdrücken muss, lässt er sich, wenn er endlich aller Zwänge ledig ist, von eben diesen Trieben leiten. Und so lenkt Dr. Berry, als er seine Unterkunft im Krankenhaus verlässt, seine Schritte in das verrufene Viertel mit Namen North Slope, zur Sentry Hill Tavern, wo wettergegerbte Matrosen mit freigelassenen Sklaven trinken und wo man von jeder jungen Dame, die zur Tür hereintritt, getrost annehmen darf, dass ihr der Sinn nach mehr als nur einem Glas Brandy steht.
    Dr. Berry hält sich nicht lange in der Schenke auf; nicht länger,
als es dauert, zwei Rum-Flips zu trinken. Dann kommt er wieder heraus, an seiner Seite ausgelassen kichernd das auserwählte Objekt seiner Lust. Er hätte sich eine aussuchen können, der man ihr Gewerbe nicht so eindeutig ansah wie dieser schlampigen Dirne mit ihren verfilzten schwarzen Haaren, aber für seine Zwecke ist sie genau die Richtige, und so führt er sie hinunter zum Fluss, dem üblichen Ort für solche heimlichen Zusammenkünfte. Sie geht bereitwillig mit, wenngleich mit etwas unsicheren Schritten, und die enge Gasse hallt wider von ihrem trunkenen Gelächter. Doch als sie direkt vor sich das Wasser erblickt, bleibt sie plötzlich stehen, pflanzt sich breitbeinig hin wie ein störrischer Esel.
    »Was ist?«, fragt Dr. Berry, der voller Ungeduld darauf wartet, ihre Röcke zu heben.
    »Der Fluss. Dieses Mädchen wurde da unten ermordet.«
    Das weiß Dr. Berry natürlich schon. Schließlich hat er Mary Robinson gekannt und mit ihr gearbeitet. Aber wenn er so etwas wie Trauer über ihren Tod empfindet, muss dieses Gefühl jetzt ganz hinter seinem drängenden Bedürfnis zurücktreten. »Keine Sorge«, beruhigt er die Dirne. »Ich werde dich beschützen. Komm weiter.«
    »Das bist doch nicht etwa du, oder? Der West End Reaper?«
    »Natürlich nicht! Ich bin Arzt.«
    »Es heißt, er könnte Arzt sein. Dass er deswegen Krankenschwestern ermordet.«
    Dr. Berry kann es inzwischen kaum noch erwarten, sich endlich Erleichterung zu verschaffen. »Aber du bist schließlich keine Krankenschwester, oder? Komm schon, es soll dein Schaden nicht sein.« Er zerrt sie ein paar Schritte weiter, doch erneut sträubt sie sich und bleibt stehen.
    »Woher soll ich wissen, dass du mich nicht aufschlitzt wie diese armen Frauen?«
    »Die ganze Schenke hat uns doch zusammen weggehen sehen. Wenn ich wirklich der Reaper wäre, glaubst du, ich würde vor aller Augen so ein Risiko eingehen?«
    Seine unangreifbare Logik scheint sie zu überzeugen, denn
nun gestattet sie ihm, sie zum Fluss zu führen. Jetzt, da er so kurz vor dem Ziel steht, ist sein einziger Gedanke, tief in sie einzudringen. Nicht ein Mal kommt ihm Mary Robinson in den Sinn, als er die Hure praktisch zum Ufer hinunterschleift, und warum sollte sie auch? Keine Vorahnungen plagen Dr. Berry, während er mit der Hure zum Schatten der Brücke strebt, wo sie nicht gesehen werden können.
    Aber gehört werden können sie umso besser.
    Die Laute steigen aus der Dunkelheit auf und werden vom Wind über die Uferböschung geweht. Das Rascheln eines Rocks, der hochgerissen wird, das erhitzte Keuchen, das Stöhnen, das den Höhepunkt anzeigt. Nach wenigen

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