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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Minuten ist alles vorbei, und das Mädchen eilt die Böschung hinauf, vielleicht noch ein wenig zerzauster, aber um einen Half Eagle reicher. Sie bemerkt nicht die Gestalt, die dort im Schatten steht, als sie zur Schenke zurückeilt, um nach dem nächsten Freier Ausschau zu halten.
    Das ahnungslose Mädchen geht einfach weiter und schaut sich nicht ein einziges Mal zur Brücke um, wo Dr. Berry noch damit beschäftigt ist, seine Hose zuzuknöpfen. Sie sieht nicht, was da lautlos die Böschung hinuntergleitet und auf ihn zuschleicht.
    Als Dr. Berrys letztes Todesröcheln am Fluss verhallt, ist die Hure schon wieder in der Schenke und sitzt lachend auf dem Schoß eines Matrosen.

18
    »Sie wünschten mich zu sprechen, Dr. Grenville?«, sagte Norris.
    Dr. Grenville blickte ihn über seinen Schreibtisch hinweg an, und sein Gesicht, das die Morgensonne hinter seinem Rücken in Schatten tauchte, verriet nichts. Jetzt ist es so weit, dachte Norris. Seit Tagen quälten ihn die Gerüchte, die Andeutungen. Er hatte das Geflüster auf den Gängen gehört, hatte die Blicke seiner Mitstudenten aufgefangen. Als er nun Grenville gegenüberstand, machte er sich darauf gefasst, das Unvermeidliche zu hören. Besser, die Antwort gleich zu kennen, dachte er, als noch Tage oder Wochen unter dem Getuschel zu leiden, ehe das Ende kam.
    »Sie haben den jüngsten Artikel im Daily Advertiser gesehen?«, fragte Grenville. »Über die West-End-Morde?«
    »Ja, Sir.« Warum es noch länger hinausschieben?, dachte er. Besser, er brachte es gleich hinter sich. Er sagte: »Ich möchte die Wahrheit wissen, Sir. Werde ich nun vom College verwiesen oder nicht?«
    »Sie glauben, ich hätte Sie deswegen herbestellt?«
    »Das ist eine naheliegende Vermutung. Angesichts …«
    »Der Gerüchte? O ja, es wird eine Menge geredet. Ich habe von den Familien einiger unserer Studenten gehört. Sie sorgen sich alle um den Ruf dieser Lehranstalt. Ohne unseren Ruf sind wir nichts.«
    Norris schwieg, doch die Angst lag ihm wie ein Stein im Magen.
    »Die Eltern dieser Studenten machen sich auch Sorgen um das Wohlergehen ihrer Söhne.«
    »Und sie glauben, ich stelle eine Bedrohung dar.«
    »Sie verstehen doch, warum, oder nicht?«

    Norris sah ihn unverwandt an. »Sie verdammen mich allein aufgrund von Indizien.«
    »Indizien können eine beredte Sprache sprechen.«
    »Aber auch eine irreführende Sprache. Sie ertränken die Wahrheit. Das Medizinische College rühmt sich seiner wissenschaftlichen Methoden. Geht es bei diesen Methoden nicht allein darum, Antworten auf der Basis von Fakten und nicht von Gerüchten zu suchen?«
    Grenville lehnte sich in seinem Sessel zurück, ohne jedoch den Blick von Norris zu wenden. Allein die Objekte, mit denen er sich in seinem Arbeitszimmer umgab, waren ein Beleg dafür, wie hoch er das Studium der Naturwissenschaft schätzte. Auf seinem Schreibtisch lag ein grotesk verformter menschlicher Schädel neben einem normal entwickelten. In der Ecke hing das Skelett eines Zwergs, und auf den Regalen des Bücherschranks standen in Whiskeykrügen eingelegte Präparate: eine abgetrennte Hand mit sechs Fingern; eine von einem Tumor halb zerfressene Nase; ein Neugeborenes mit einem einzelnen Zyklopenauge. Alles stumme Zeugen der Faszination, die anatomische Kuriositäten auf ihn ausübten.
    »Ich bin nicht der Einzige, der den Mörder gesehen hat«, sagte Norris. »Auch Rose Connolly hat ihn gesehen.«
    »Ein Monster mit schwarzen Schwingen und dem Gesicht eines Totenschädels?«
    » Irgendetwas treibt im West End sein Unwesen.«
    »Die Nachtwache betrachtet die Taten als das Werk eines Schlächters.«
    »Und das ist der eigentliche Vorwurf gegen mich, nicht wahr? Dass ich der Sohn eines Farmers bin. Wäre ich Edward Kingston oder Ihr Neffe Charles oder der Sohn eines allseits bekannten Gentlemans, wäre ich dann immer noch verdächtig? Gäbe es dann irgendeinen Zweifel an meiner Unschuld?«
    Nach kurzem Schweigen erwiderte Grenville: »Ich verstehe Sie sehr gut.«
    »Doch es ändert nichts.« Norris wandte sich zum Gehen.
    »Guten Tag, Dr. Grenville. Ich sehe, dass ich hier keine Zukunft habe.«
    »Warum sollten Sie hier keine Zukunft haben? Habe ich Sie etwa der Anstalt verwiesen?«
    Norris hatte die Hand schon am Türknauf. Er wandte sich um. »Sie sagten, meine Anwesenheit stelle ein Problem dar.«
    »Sie ist in der Tat ein Problem, doch ich werde mich um dieses Problem kümmern. Mir ist durchaus bewusst, dass Sie in verschiedenster Weise

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