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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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benachteiligt sind. Anders als so viele Ihrer Kommilitonen kommen Sie nicht direkt von Harvard oder überhaupt von irgendeinem College. Sie sind Autodidakt, und doch sind sowohl Dr. Sewall als auch Dr. Crouch von Ihren Fähigkeiten beeindruckt.«
    Im ersten Moment fehlten Norris die Worte. »Ich … ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
    »Danken Sie mir noch nicht. Es könnte immer noch anders kommen.«
    »Sie werden das nicht bereuen!« Wieder griff Norris nach dem Türknauf.
    »Mr. Marshall, da wäre noch eine Sache.«
    »Sir?«
    »Wann haben Sie Dr. Berry das letzte Mal gesehen?«
    »Dr. Berry?« Die Frage kam so völlig unerwartet, dass Norris verdutzt innehielt. »Gestern Abend war das. Als er das Krankenhaus verließ.«
    Grenville blickte mit besorgter Miene zum Fenster hinaus. »Da habe auch ich ihn zuletzt gesehen«, murmelte er.
     
    »Obgleich es schon so manche Spekulationen hinsichtlich der Ätiologie gegeben hat«, sagte Dr. Chester Crouch, »ist die Frage nach den Ursachen des Kindbettfiebers noch längst nicht geklärt. Es handelt sich um eine äußerst bösartige Erkrankung, die jungen Frauen das Leben raubt, just wenn sie sich mit dem Geschenk der Mutterschaft ihren Herzenswunsch erfüllt haben …« Er hielt inne und starrte zur Tür.
    Alle Augen richteten sich auf Norris, als er den Hörsaal
betrat. Ja, der berüchtigte Reaper war gekommen. Zitterten sie vor ihm? Fürchtete jeder, dass er sich neben ihn setzen könnte, dass seine Verworfenheit auf ihn abfärben würde?
    »Bitte, suchen Sie sich einen Platz, Mr. Marshall!«, sagte Crouch.
    »Ich bin dabei, Sir.«
    »Hier!« Wendell stand auf. »Wir haben dir einen Platz freigehalten, Norris.«
    Norris spürte, wie ihn die Blicke der Kommilitonen verfolgten, als er sich durch die Sitzreihe zwängte, vorbei an jungen Männern, die zurückzuzucken schienen, wenn er sie im Vorbeigehen streifte. Er ließ sich auf den freien Platz zwischen Wendell und Charles sinken. »Ich danke euch beiden«, flüsterte er.
    »Wir hatten schon befürchtet, du würdest gar nicht kommen«, sagte Charles. »Du hättest die Gerüchte heute Morgen hören sollen. Man munkelt …«
    »Sind die Herrschaften jetzt vielleicht fertig mit ihrer Privatunterhaltung?«, fragte Crouch, und Charles errötete. »Nun, wenn Sie mir gnädigerweise gestatten würden fortzufahren.« Crouch räusperte sich und begann wieder auf dem Podium auf und ab zu gehen. »Wir erleben zurzeit eine regelrechte Epidemie auf unserer Entbindungsstation, und ich fürchte, es wird noch weitere Fälle geben. Wir werden uns also an diesem Vormittag dem Thema des Kindbettfiebers widmen, auch als Puerperalfieber bekannt. Es trifft die Frau in der Blüte ihrer Jugend, gerade dann, wenn ihr Leben die größte Erfüllung erfährt. Auch wenn ihr Kind wohlbehalten entbunden wird und sogar gedeiht, lauern auf die junge Mutter immer noch Gefahren. Die Krankheit kann sich während der Wehen manifestieren, doch manchmal treten die Symptome erst Stunden oder gar Tage nach der Niederkunft auf. Es beginnt mit Schüttelfrost, der bisweilen so heftig ist, dass das ganze Bett wackelt. Darauf folgt unweigerlich ein Fieber, das mit Rötung der Haut und Herzrasen einhergeht. Aber die eigentliche Tortur sind die Schmerzen. Sie beginnen im Beckenbereich
und steigern sich mit dem Anschwellen des Abdomens zu einer unerträglichen Empfindlichkeit. Die leiseste Berührung der Haut löst Schmerzensschreie aus. Oft kommt es auch zu einem blutigen, ausgesprochen übel riechenden Ausfluss. Der Gestank haftet an Kleidern und Bettzeug und kann das ganze Krankenzimmer erfüllen. Sie können sich nicht vorstellen, wie quälend und demütigend es für eine feine Dame ist, die stets auf peinlichste Sauberkeit und Hygiene geachtet hat, wenn sie feststellen muss, dass von ihrem Körper ein so abstoßender Geruch ausgeht. Aber das Schlimmste steht ihr noch bevor.«
    Crouch hielt inne. Seine Zuhörer waren vollkommen still und hingen gebannt an seinen Lippen.
    »Der Puls beschleunigt sich«, fuhr Crouch fort. »Die Sinne sind benebelt, sodass die Patientin manchmal nicht mehr den Tag oder die Stunde weiß oder nur noch zusammenhanglos vor sich hin murmelt. Oft kommt hartnäckiges Erbrechen hinzu, mit einem unbeschreiblich übel riechenden Auswurf. Der Atem geht schwer, der Puls wird unregelmäßig. In diesem Stadium kann kaum noch etwas das Leiden lindern als Morphium und Wein. Denn bald darauf tritt unweigerlich der Tod ein.« Er brach ab und

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