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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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der unter dem Vordach des Krankenhauseingangs hervorquoll und sich im Regen in dünne Kringel auflöste. »Wieso diese Ungeduld? Man könnte meinen, du hättest eine dringende Verabredung.«
    »Habe ich auch. Mit einem Glas vom allerbesten Bordeaux.«
    »Gehen wir in den Hurricane?«, fragte Charles Lackaway.
    »Falls meine Kutsche sich irgendwann blicken lässt.« Edward blickte finster auf die Straße hinaus, wo Pferdehufe klapperten und Kutschen vorüberrollten, von deren Rädern der Matsch in Klumpen aufspritzte.
    Obwohl Norris Marshall zusammen mit den anderen auf der Veranda stand, wäre die Kluft zwischen ihm und seinen Kommilitonen für jeden, der auch nur einen flüchtigen Blick auf die vier jungen Männer warf, offensichtlich gewesen. Norris war neu in Boston, ein Farmerssohn aus Belmont, der sich mit geborgten Lehrbüchern selbst Physik beigebracht hatte, der Eier und Milch gegen Privatstunden bei einem Lateinlehrer eingetauscht hatte. Er war noch nie im Hurricane gewesen; er wusste nicht einmal, wo die Schenke war. Seine Kommilitonen, allesamt Absolventen des Harvard College, tauschten den neuesten Klatsch über Leute aus, die er nicht kannte; sie lachten über Witze, die er nicht verstand; und wenn sie es nicht offen darauf anlegten, ihn auszuschließen, dann nur, weil es gar nicht nötig war. Es verstand sich von selbst, dass er nicht zu ihrem gesellschaftlichen Kreis gehörte.

    Edward seufzte und stieß dabei eine Rauchwolke aus. »Unerhört, wie dieses Mädchen mit Dr. Crouch geredet hat, findet ihr nicht? Diese Unverfrorenheit! Wenn eins von den Mädchen in unserem Haushalt so zu reden wagte, würde meine Mutter sie mit einem Tritt auf die Straße befördern!«
    »Deine Mutter«, bemerkte Charles in ehrfürchtigem Ton, »jagt mir gehörigen Respekt ein.«
    »Mutter sagt, es ist wichtig, den Iren ihre Schranken zu zeigen. Nur so kann die Ordnung gewahrt werden, bei den ganzen Zuzüglern, die jetzt die Stadt überschwemmen und nichts als Ärger machen.«
    Zuzügler . Norris war einer von ihnen.
    »Die Bridgets sind die schlimmsten. Diese Irenweiber kannst du nicht eine Minute aus den Augen lassen, sonst stehlen sie dir die Hemden geradewegs aus dem Schrank. Und wenn du dann feststellst, dass etwas fehlt, behaupten sie, es wäre in der Wäsche verloren gegangen oder der Hund hätte es gefressen.« Edward schnaubte verächtlich. »Ein Mädchen wie die da muss erst mal lernen, was sich gehört.«
    »Ihre Schwester liegt vielleicht im Sterben«, bemerkte Norris.
    Die drei Harvard-Absolventen drehten sich um, offensichtlich überrascht, dass ihr sonst so schweigsamer Kommilitone sich zu Wort meldete.
    »Im Sterben? Das ist eine ziemlich dramatische Behauptung«, meinte Edward.
    »Fünf Tage in den Wehen, und sie sieht jetzt schon aus wie eine Leiche. Dr. Crouch kann sie so viel zur Ader lassen, wie er will, aber es sieht nicht gut für sie aus. Die Schwester weiß es. Aus ihr spricht der Kummer.«
    »Trotzdem sollte sie nicht vergessen, wer ihr Wohltäter ist.«
    »Und ihm für jeden Krümel dankbar sein?«
    »Dr. Crouch ist keineswegs dazu verpflichtet, die Frau zu behandeln. Und doch tut die Schwester so, als sei es ihr gutes Recht.« Edward drückte sine Zigarre auf dem frisch gestrichenen
Geländer aus. »Ein bisschen Dankbarkeit würde diese Leute schon nicht umbringen.«
    Norris spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er wollte eben zu einer scharfen Erwiderung ansetzten, als Wendell das Gespräch elegant auf ein anderes Thema lenkte.
    »Ich glaube, da ließe sich ein Gedicht draus machen, findet ihr nicht? ›Das unerschrockene Irenmädchen‹.«
    Edward seufzte. »Bitte nicht. Verschone uns mit deinen scheußlichen Versen.«
    »Oder wie wär’s mit diesem Titel«, warf Charles ein. »›Ode an eine treue Schwester‹?«
    »Gar nicht übel!«, meinte Wendell. »Mal sehen.« Er hielt inne. »Hier steht die tapf’re Kriegerin, die treue, schöne Maid …«
    »Der Schwester Leben gilt die Schlacht«, dichtete Charles weiter.
    »Sie – sie …« Wendell grübelte über den nächsten Vers des Gedichts nach.
    »… wacht, allzeit bereit!«, endete Charles.
    Wendell lachte. »Und wieder triumphiert die Poesie!«
    »Während wir anderen leiden«, brummte Edward.
    Norris hörte sich das alles mit dem quälenden Unbehagen des Außenseiters an. Wie ungezwungen seine Kommilitonen miteinander lachten. Wie wenig es bedurfte – nur ein paar Zeilen eines Stegreif-Gedichts -, um ihn daran zu erinnern, dass

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