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Leichensache

Leichensache

Titel: Leichensache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Horst
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Schnitt. Wenigstens haben sie den Knoten ganz gelassen. Augen und Mund sind leicht geöffnet, die Zungenspitze ist zu sehen. Eingerissenes T-Shirt am Halsausschnitt, wahrscheinlich der Notarzt. Auf der Brust sind keine Male von Elektroden zu sehen.
    »War schon steif. Todeszeitpunkt wahrscheinlich gegen Mitternacht.« Der Schließer, ohne seine Haltung zu verändern.
    »Abschiedsbrief oder so was?«
    Nagel blinzelt aus den Augenwinkeln. Nein, bis jetzt nicht.
    »Komm, zeig, was du gelernt hast.«
    Heike nimmt die Polaroid, stellt ein, sucht die beste Perspektive. Der Blitz gibt seinem Gesicht letztes Leben.
    »Geh mal aus dem Bild.« Heike hält die Kamera hochkant, winkt mit der Linken. Sie legt die Bilder auf den Tisch, aus der Blässe erscheint langsam Marcs Gesicht. Die Kontrollleuchte vom Memocord glimmt schwach auf, verlischt. Mann, Mann, wer legt die Dinger denn immer leer in den Schrank?
    »Mach ein paar Bilder mehr von der Zelle. Die Batterien sind leer. Machen wir den Befund eben zu Hause.«
    Nagel blättert auf dem Tisch einen Stapel Zeitungen durch, Autos, Kicker, Praline. Wonach riecht das hier? Irgendwie alt. Über dem Bett ein Bild von Tina Turner, leichte Grätsche, Glitzermini, Pumps, die Brustwarzen zeichnen sich deutlich ab. Darunter ein Foto, abgegriffen. Auf der Fensterbank ein Glas Nutella, Teebeutel und vier Schachteln HB. Heike stolpert beim Rückwärtsgehen über die Badelatschen von Puma vor dem Bett.
    »Warst du schon am Schrank?«
    »Ne«, Nagel legt die Zeitungen auf den Tisch, »bin auch gerade erst gekommen.«
    Die Unterwäsche ordentlich zusammengelegt. Im Wertfach die Uhr, ein paar Fotos, die Schreibmappe, drei Briefe von der Mutter.
     
    Lieber Marc,
    ich habe deinen Brief bekommen, so viele Tage bist du jetzt schon in diesem schrecklichen Bau, lass dich nicht hängen, mein Lieber. Sei ganz sicher, wir glauben dir. Keiner von uns glaubt, dass du das ge tan hast. Lass dich nicht kaputtmachen …
     
    Wer genau ist denn wir?
    »Die Sachen hier nehmen wir mit, ja?« Der Schließer nickt stumm. Dem schlafen doch bestimmt gleich die Beine ein.
    Unter den T-Shirts ein Schreibblock, Uni-Script. Mit Umweltengel. Heike knipst die Wand über dem Bett, geht noch einmal näher heran.
    »Das ist ja Anne.«
    »Die tote Schwester?«
    »Ja«, Foto, »Halbschwester, genauer gesagt.« Noch mal ganz nah, setzt dann die Polaroid ab. »Die ist gestorben, als er dreizehn war. Da war sie fünfundzwanzig. Das Foto muss nicht lange vor ihrem Tod gemacht worden sein.«
    Die ersten Seiten vom Schreibblock sind übersäht mit Gesichtern. Punktaugen, Strichmünder. Keines lacht. Wie die bescheuerten Waldorf-Puppen. Dazwischen wirre Linien, Überschneidungen, unregelmäßige Figuren, manche ausgemalt, schraffiert.
     
    Große Anne,
    ich habe eine Zelle für mich allein. Die Tage vergehen langsam, zweimal die Woche können wir Sport machen. Du bist nicht da. Wo bist du? Nachts kommen sie wieder, und du bist nicht da. Heute waren sie die ganze Nacht da. Draußen. Ich kann sie hören. Du bist nicht da. Die Wände sind aus Wasser.
    Keine Verstecke …
     
    Umblättern.
     
    Große Anne,
    die Sonne scheint. Aus dem Fenster kann ich ein Stück von einem Feld sehen. Manchmal sind da Vögel. Meistens Krähen. Man kann sie hören. Wenn ich dich rufe, hörst du nicht. Darf nicht schlafen, wenn du nicht da bist. Sie greifen. Warum bist du nicht da? Die Wände sind aus Wasser. Eselsaugen und lange Köpfe und Kichern, die ganze Nacht. Anne, Anne.
     
    Poltern auf dem Gang, der Schließer wendet den Kopf. Der kann sich tatsächlich noch bewegen. Die grauen Kittel der Sargträger glänzen neu, Piecholke grüßt mit einem knappen Lächeln, bugsiert mit Mühe die Kunststoffkiste durch die enge Zellentür. Der Schließer merkt nicht, dass er im Weg steht. Das ölige Gelb des Sargs passt zum PVC-Grün.
    »Können wir schon?« Piecholke beugt sich mit Atemnot über die Kiste, öffnet den Deckel.
    »Jaja. Die Leichenschau machen wir in der Halle. Der wird sowieso gleich obduziert.« Er nickt, die Latexhandschuhe quietschen beim Anziehen. Er zieht Marc vorsichtig von der Heizung, kreuzt den Arm über der Brust, nimmt ihn von hinten im Erste-Hilfe-Griff. Zu spät. »Zentralfriedhof?«
    Piecholke quittiert still die Zustimmung. Beim Raustragen streift der Sarg den Schließer am Bauch.
     
    Große Anne,
    ich habe heute Kuchen gegessen.
     
    »Achtzehn Fotos. Reicht das?«
    »Wenn alles drauf ist.«
    »Sehr hilfreich. Es ist alles drauf.

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