Leichtes Beben
sie den ganzen Tag nicht losgelassen hatte. Sie fragte sich zum wiederholten Mal, wer der Unbekannte gewesen sein mochte, mit dem Franziska Sex gehabt hatte.
Franziska hatte ihr kürzlich beim Mittagessen anvertraut, dass ihre jüngere Schwester Jill eine masochistische Ader besaß und auf Kerle stand, die im Bett kräftiger zupackten. Unlängst hätte sie einen Kaufhausdetektiv kennengelernt, der deutlich älter war als sie und offenbar ganz ihrer Neigung entsprach. Da hatte Maggie, die sich keineswegs für prüde hielt, im Stillen gedacht: Was ist bloß heute mit den jungen Frauen los?
Sie selbst war im Begriff, sich von ihrem deutlich jüngeren Freund Martin zu trennen. Und sie hätte die Trennung sicher längst hinter sich gebracht, wäre da nicht ihr dreizehnjähriger Sohn Lennart gewesen, der an Martin inzwischen mehr hing als an seinem leiblichen Vater, ihrem geschiedenen Mann Bernd.
Lennart vergötterte Martin, der jede freie Minute mit ihm verbrachte. Martin, der bei gutem Wetter regelmäßig mit ihm in den Wald ging, hatte Lennart das Schnitzen beigebracht und ihm gezeigt, wie |309| man mit kleinen Ästen Feuer machte. Zuletzt hatte er dem Jungen ein teures Schweizer Taschenmesser geschenkt, das Lennart seither stets in einem Lederetui an seinem Gürtel trug. Die beiden waren die allerbesten Freunde, und schon länger hatte Maggie neben all den anderen Problemen immer häufiger das Gefühl, Martin interessiere sich mehr für den Jungen als für sie. Auch deshalb hatte sie ihm untersagt, Lennart weitere Geschenke zu machen und, obwohl sie wusste, was das für ihren Sohn bedeuten würde, von ihm verlangt, auf Distanz zu Lennart zu gehen. Daraufhin hatte Martin wortlos ihre Wohnung verlassen und sich tagelang nicht mehr bei ihr gemeldet.
Ich hätte ihm den verdammten Wohnungsschlüssel wegnehmen sollen, dachte Maggie und kickte einen Schuh nach dem anderen vom Fuß, sodass sie auf dem Teppich liegenblieben.
Lennart war zum Abschluss des Schuljahrs auf Klassenfahrt und würde erst in zwei Tagen zurück sein. Er hatte sich gewünscht, die ersten drei Wochen der großen Ferien bei seinem Vater verbringen zu dürfen, der ihn mit ans Meer nehmen würde, zum Tauchen in Kroatien. Nach einer Woche würden sie gemeinsam mit Maja, Bernds neuer Freundin, nach Slowenien fahren, zu den Plitwitscher Seen
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In den sechziger Jahren waren dort die »Winnetou«
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Filme mit Pierre Brice und Lex Barker gedreht worden, und es war immer Bernds Traum gewesen, einmal dorthinzufahren. Nun wollte er sich diesen Traum eben gemeinsam mit Maja und Lennart erfüllen.
Zum Geburtstag hatte Bernd dem Jungen die vier |310| »Winnetou«-DVDs geschenkt, um ihn auf die Reise einzustimmen. Und Lennart sei begeistert gewesen, als sie an einem regnerischen Mai-Wochenende gemeinsam mit Chips und Cola vor dem Fernseher auf dem Boden gelegen und sich die Filme angesehen hätten. Das hatte Bernd ihr jedenfalls hinterher hörbar stolz am Telefon erzählt. Du armer Kindskopf, hatte Maggie gedacht, ihn gleichzeitig aber auch irgendwie beneidet.
In der letzten Ferienwoche wollte Martin mit dem Jungen eine Fahrradtour unternehmen, nur sie beide, mit Zelt und Schlafsack und Lagerfeuer. Als sie das erste Mal über eine Fahrradtour sprachen, hatte Maggie die Vorstellung gefallen, dass Lennart, der selbst bei schönstem Wetter am liebsten in seinem Zimmer saß und seine CDs hörte, eine Zeitlang raus in die Natur käme. Doch als es zwischen Martin und ihr immer heftiger zu kriseln begann, hatte sie es sich anders überlegt und beschlossen, den Jungen stattdessen für einen zehntägigen Englischkurs nach Brighton zu schicken. Als sie Martin von ihrem Entschluss erzählte, erwiderte er erbost: »Ich habe es Lennart versprochen. Jetzt abzusagen, das kannst du ihm nicht antun. Und mir auch nicht.«
Doch Maggie war hart geblieben, ihr Entschluss stand fest. Sie hatte ihm klar gesagt, dass sie sich von nun an jede Einmischung seinerseits in ihre Planungen verbitte. Doch nun stand da plötzlich dieses Fahrrad auf dem Balkon, und Maggie spürte, wie die Wut auf Martin in ihr anzuschwellen begann.
Natürlich wusste sie, dass es falsch war, denn die |311| letzten Male, als sie getrunken hatte, waren ihr noch schmerzhaft in Erinnerung. Erst kürzlich hatte Martin sie bewusstlos auf dem Küchenboden liegend gefunden und so, wie sie war, unter die Dusche gestellt und eiskalt abgeduscht. Trotzdem ging sie zum Spirituosenschrank, nahm die Cognacflasche und ein Glas
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