Leichtes Beben
einem Regionalzug gesessen, der plötzlich mit einem über die Gleise laufenden Pferd kollidiert war. Nach dem heftigen, vom Kreischen der Bremsen begleiteten Zusammenprall hatte der Zugführer bewusstlos in der Führerkabine gelegen, die Türen ließen sich nicht mehr öffnen, und es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis die betrunkenen Feuerwehrmänner, die zufällig ganz in der Nähe ein Sommerfest gefeiert hatten, sie aus den völlig überhitzten Waggons befreit hatten.
Später hatte Anna in der Zeitung gelesen, das Tier habe offenbar das aufkommende Erdbeben gewittert |299| und sei deswegen ausgebrochen, über die Umzäunung gesprungen und über die Gleise gelaufen.
Bis auf den Zugführer war bei dem Unfall niemand verletzt worden. Trotzdem würde Anna die Bilder nie vergessen: die mit Pferdeblut verschmierte, glutrote Frontscheibe, die grölenden Feuerwehrmänner in ihren ebenfalls leuchtend roten Anzügen, das schreiende Kleinkind, den umgestürzten Kinderwagen und die angespannten und von der Hitze stark geröteten Gesichter der andren Fahrgäste. »Es war grausam, du kannst dir nicht vorstellen, wie!«, murmelte sie, ganz in ihren Gedanken gefangen. Von dem Mann erzählte sie nichts.
Anna hatte es sich irgendwann angewöhnt, mit ihrem Bruder zu reden und sogar für ihn zu antworten. Sie erzählte ihm von ihren Träumen und Phantasien, was sie erlebte und was sie bewegte. Sie sagte: »Weißt du noch, wie wir uns als Kinder im Keller versteckt haben?« Oder: »Erinnerst du dich noch an das Fräulein Kleinschmidt aus dem ersten Stock? Die kleine, gebückt gehende Person, die in aller Frühe, mit ihrem Nachttopf in der Hand und mit ihrem hellblauen Morgenmantel bekleidet, die Treppe herunterkam, um ihn im Hof auszuleeren?«
Es kam vor, dass Anna stundenlang an Jakobs Bett saß und erzählte, ohne sich auch nur einmal von ihrem Platz zu erheben, um etwas zu trinken oder zur Toilette zu gehen oder eine Zigarette zu rauchen. Manchmal meinte sie, an einem flüchtigen Zucken um die Mundwinkel herum oder an einem schwachen Blinzeln seiner in der Regel geschlossenen Augen |300| seine Zustimmung oder sein Missbehagen ablesen zu können.
Meist hielt sie seine große warme Hand, während sie zu ihm sprach. Dabei konnte sie mit dem Finger jedes Mal die als leichte Erhebung spürbare Narbe auf dem Handrücken und an deren Innenseite ertasten. Dann sah sie den sonnigen kleinen Hof vor sich, den Hackklotz unter dem schattenspendenden, gewellten Vordach des gemauerten Schuppens und natürlich Jakob, der das Beil mit der blitzenden Klinge in der Hand gehalten und plötzlich wie auf Kommando aus einer Höhe von vielleicht dreißig Zentimetern auf seine andere, auf dem Holzklotz liegende Hand hinuntersausen ließ. Anna war auf dem Weg zum Schuppen gewesen und hatte jäh innegehalten, als sie sah, was geschah. Doch was sie – mehr noch als das in der Sonne geheimnisvoll glitzernde, kirschrot aus Jakobs Handrücken pulsierende Blut – schockiert hatte, war sein Gelächter, das sich zu einem Grölen steigerte, bis er mit geweiteten Augen neben dem Hackklotz niedersank.
In einer mehrstündigen Operation hatte man die beiden Teile der bis auf wenige Fasern durchtrennten Hand wieder zusammengefügt. Seither aber galt Jakob als körperlich teilbehindert, und die Narbe auf seinem Handrücken sollte fortan an jenen für alle anderen unerklärlichen Moment erinnern, in dem er sich in jene anderen, abseitigen Räume verabschiedet hatte, aus denen es kein Zurück mehr für ihn geben sollte. Seine ziellose Reise durch wechselnde psychiatrische Anstalten begann, die Diagnose lautete: hebephrene Schizophrenie.
|301| Zweimal war es in den sechs Wochen vorgekommen, dass Jakob unvermutet die Augen öffnete. Beide Male hatte Anna ein kurzes, intensives Glücksgefühl durchströmt, obwohl sie wusste, dass es sich dabei nur um einen unwillkürlichen Reflex seines Zwischenhirns oder des Rückenmarks handeln konnte. Denn seine völlige geistige und körperliche Reglosigkeit war die Folge einer zweifelsfrei festgestellten schweren Schädigung des Gehirns, zu der es infolge einer zu lange währenden Sauerstoffunterversorgung gekommen war.
Jakob war von einem seiner Mitbewohner im Treppenhaus gefunden worden und musste, wie die späteren Untersuchungen ergaben, bereits längere Zeit dort gelegen haben. Zunächst hatte man seine anhaltende Bewusstlosigkeit für eine starke Unterzuckerung oder einen Schlaganfall gehalten. Doch die beständige Störung
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