Leichtes Beben
der Pupillenmotorik hatte bald nur noch eine Beurteilung zugelassen: Jakob hatte eine schwere, irreparable Schädigung seines Gehirns erlitten. Die Ärzte sprachen von einem »Apallischen Syndrom«.
Zunächst hatte Anna noch darauf gehofft, Jakob werde sich erholen. Doch je länger sein hellhäutiger, stark behaarter Körper keinerlei Regung erkennen ließ und sowohl künstlich beatmet als auch ernährt werden musste, desto klarer wurde ihr, was das hieß, und sie lief mehrmals weinend aus seinem Zimmer, hinaus auf den dunklen Flur, wo sie sich ans Fenster stellte und in den Himmel sah. Irgendwann aber hatte sie begonnen, sich mit dem Schicksal ihres Bruders abzufinden. Bis zu diesem Tag. Der Raum war vom |302| süßlich-herben Duft der Wiesenblumen erfüllt, die sie auf ihrem Spaziergang durch das Naturschutzgebiet für ihn gepflückt hatte, und zum gekippten Fenster drang die warme Luft herein. Doch diesmal lag ihre Canon EOS 300 vor ihr auf dem Tisch, eine im Vergleich zu den inzwischen inflationär gewordenen zigarettenschachtelgroßen Digitalgeräten herkömmliche Spiegelreflexkamera.
Ganz plötzlich war ihr die Sache wieder eingefallen. Und sofort hatte ihr Herz heftiger geschlagen. Dabei war sie nie sonderlich empfänglich für Übersinnliches gewesen. An UFOs und Außerirdische glaubte sie ebenso wenig wie an Gott oder den Zufall. Und wenn Mitglieder der Zeugen Jehovas sie auf der Straße ansprachen, ging sie jedes Mal wortlos weiter.
Doch als Anna vor dem Wohnzimmerschrank stand und die hellbraune Fototasche herausnahm, dachte sie entschlossen: Einen Versuch ist es wert! Und sogleich sah sie das wettergegerbte Gesicht der Voodoo-Zauberin wieder ganz deutlich vor sich. Eine Indianerin, hatte sie bei deren Anblick spontan gedacht, fasziniert auf die Mattscheibe gestarrt und aufmerksam ihren Worten gelauscht.
Sie nahm die Kamera aus der Tasche, löste den dunklen Objektivdeckel und schaltete sie ein. Dann hob sie den Apparat vors Gesicht und spähte durch den Sucher. Dabei drehte sie so lange am Objektiv, bis das reglose Gesicht ihres Bruders gut in dem engen Bildausschnitt zu sehen war.
Sie machte zur Sicherheit eine ganze Serie von Bildern. |303| Sie fotografierte Jakobs erstarrtes Gesicht von oben, von den Seiten und zuletzt direkt von vorn.
Keine halbe Stunde später stieg sie in ihren Wagen, um den Film zur Entwicklung zu bringen. Doch bevor sie ihren Bruder verließ, schnitt sie ihm mit ihrer kleinen Nagelschere ein paar Haare ab, die sie in ihr Portemonnaie legte.
Zu Hause fertigte sie aus einem weißen Blatt Papier einen Schattenriss ihres Bruders an, an den sie seine abgeschnittenen Haare klebte. Und als es dunkel wurde, entzündete sie ein paar Kerzen und sprach mehrere Male, zunächst leise und unsicher, schließlich aber immer lauter die Worte: »Ich sende meine Kraft an dich! Ich sende dir Erleichterung und vollkommene Heilung! Ich sende dir kosmische Energie und Liebe! Ich sende dir Heilung! Du bist geheilt!«
Seit sie auf ihrer Zugfahrt, die mit dem Unfall geendet hatte, jenem jungen Mann begegnet war, der Jakob auf beunruhigende Weise ähnlich sah, wurde sie das Gefühl nicht los, dass es sie doch gab, die geheimen Zusammenhänge des Daseins.
Nach ein paar Minuten blies sie die Kerzen aus und legte den Schattenriss aufs Fensterbrett in der Küche. Am nächsten Morgen würde die Sonne darauf scheinen. Dem Zauber zufolge, so hatte es in der Fernsehsendung geheißen, sollte der Schattenriss drei Tage an einem sonnigen Platz liegen bleiben und anschließend, mit einem Foto des Kranken in ein helles Tuch eingeschlagen, verbrannt werden, um damit dessen Leiden zu beenden. Das Foto würde sie am nächsten Tag dazulegen.
|304| Man hatte ihr in der Drogerie gesagt, sie könne die Bilder am nächsten Morgen abholen, und Anna fand in der folgenden Nacht keine Ruhe. Immer wieder schreckte sie aus dem Schlaf hoch und starrte in die Schwärze. Stundenlang warf sie sich hin und her. Erst gegen Morgen gelang es ihr schließlich, wieder einzuschlafen. Und als das Telefon läutete und sie aus wirren Träumen erwachte, dauerte es bis zum siebten oder achten Klingeln, ehe sie den Apparat erreichte und mit klopfendem Herzen den Hörer ans Ohr drückte.
»Ja?«, sagte sie und betrachtete ihr vom Schlaf verquollenes Gesicht in dem Spiegel über dem Schränkchen, auf dem das Telefon stand.
»Sind Sie das, Frau Wallott?«, sagte eine Frauenstimme.
»Ja«, sagte Anna, »ja, ich bin’s.«
»Es tut mir sehr
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