Leichtes Beben
lachen und denke: Hättest du mal besser auf deinen Jungen aufgepasst, müssten wir jetzt nicht hier sitzen und dieses unerfreuliche Gespräch führen.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Mia und nippte an ihrem kalt gewordenen Kaffee. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, wie es für ihren Vater sein würde, eingeschlossen zu sein mit Menschen, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Sie konnte manchmal selbst nicht glauben, zu was für einem Durcheinander sich ihr Leben entwickelt hatte. Dabei hatte sie einmal große Pläne gehabt. Als Teenager hatte sie von einer Karriere als Schauspielerin geträumt und die Gesten ihrer Lieblingsschauspielerinnen vor dem Wohnzimmerspiegel nachgeahmt. Später, da war sie neunzehn gewesen, hatte sie alles darangesetzt, eine gute Tänzerin zu werden, und sich durch zahllose Discofox-, Stepp- und Breakdancekurse gequält. Doch dann war sie Lehrerin geworden, und nun war sie krank und hatte alle Hände voll zu tun, die Leere ihrer Tage so zu füllen, dass sie sich abends mit dem |328| Gefühl ins Bett legen konnte, dass nicht alles sinnlos war.
Mia dachte an ihren Vater, der in seinem Zimmer lag. Und plötzlich wusste sie nicht mehr, woher sie die Kraft nehmen sollte, die nötig wäre, um ihm auf jene Weise beizustehen, die er verdient hatte. Sie würde ihm mit nicht mehr als ein paar gut gemeinten Durchhalteparolen dienen können und schämte sich schon jetzt dafür. Um auf andere Gedanken zu kommen, sagte sie: »Ich hoffe, Ihrer Freundin geht es bald besser.«
»Danke«, sagte der Fremde, »das hoffe ich auch.« Und dann schlug er die Zeitung wieder auf. Sie hätte das Gespräch gern so lange fortgesetzt, bis die Schwester sie rufen würde, damit der Arzt ihr die traurige Wahrheit über den Geisteszustand ihres Vaters offenbarte. Doch ihr fiel beim besten Willen nichts ein, was sie hätte sagen können. Sie konnte ja schlecht sagen: Lassen Sie uns bitte weiterreden, damit dieses Schweigen aufhört! Doch weil die Stille nun in ihrem Kopf anzuschwellen begann wie ein Luftballon, der jeden Moment platzen konnte, und sie dieses altbekannte Flattern in ihrer Brust registrierte, erhob sie sich jäh von ihrem Platz, packte ihre Handtasche und verließ die Cafeteria.
Sie lief hinaus auf den Gang, wo sie verzweifelt die Toiletten suchte. Sie blickte sich nach allen Seiten um, und nachdem sie ein paar Schritte den Gang entlanggelaufen war, entdeckte sie ein Schild. Mit letzter Kraft stieß sie eine der beiden Türen auf, öffnete den Wasserhahn und hielt ihre zitternden Hände unter den Strahl.
|329| Minutenlang ließ sie sich mit geschlossenen Augen die eiskalte Flüssigkeit über die Handgelenke rinnen, um den Puls, der wütend darin klopfte, zu beruhigen. Und tatsächlich ebbten die Frequenz und die Intensität der Schläge langsam ab, und sie öffnete erschöpft die Augen. Im Spiegel sah sie ihr von der Panik gezeichnetes Gesicht. Gleichzeitig spürte sie die Müdigkeit kommen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Sturm in ihrem Innern erst einmal vorüber war.
Mit nassen Fingern fuhr sie sich über die schweißnasse Stirn und strich sich eine Strähne, die dort hingeglitten war, hinters linke Ohr. Im selben Moment wurde die Tür hinter ihr geöffnet, und der Mann aus der Cafeteria erschien.
»Ah,
hier
sind Sie«, sagte er überrascht und suchte ihren Blick im Spiegel. »Man hat Sie bereits gesucht.«
»Ja, danke«, sagte sie. »Ich komme.«
»Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber das ist die Herrentoilette«, sagte der Mann und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter, nahm sie aber sofort wieder weg.
Sekundenlang blickte Mia den Fremden an. Dann eilte sie an ihm vorbei nach draußen. Doch bevor die Tür hinter ihr zufiel, hörte sie ihn sagen: »Meine Freundin wird übrigens morgen früh entlassen, es geht ihr wieder besser.« Mia schenkte seinen Worten keine Bedeutung. Sie wusste, dass sie jetzt wieder stark sein musste und dass kein Weg an dem vorbeiführte, was da draußen auf sie wartete.
|331| Dank
Ich möchte all jenen danken, die mir bei der Entstehung dieses Buches direkt oder indirekt behilflich waren. So danke ich Walter Adler für den Titel und unseren fortwährenden, unverzichtbar gewordenen Dialog. Alexander Häusser dafür, dass er mir Schindhelms Geschichte anvertraut hat. Michael Kohtes für die inspirierenden Gespräche und formalen Anregungen. Christian Försch für sein immer offenes Ohr. Gunnar Cynybulk für seinen Glauben
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