Leichtes Beben
Wand zugewandt, einen Arm angewinkelt unter den Kopf geschoben, und schlief. Er war mit einem karierten Hemd und einer grauen Manchesterhose bekleidet und schnarchte leise. Seine Füße waren nackt. Über ihm an der Wand hing, mit einer Stecknadel daran festgemacht, die an den Rändern bereits vergilbte Kopie seiner vielleicht berühmtesten Fotografie der »Puppe« aus der Serie von 1947. Nur dieses eine Motiv. Das Bild hatte ihn zur Legende gemacht, und für seine Familie war es zu einem Fluch geworden.
Klaus Bellmann blickte die Kopie an, fasziniert und abgestoßen zugleich. Sie, die Puppe, hatte seine Mutter aus dem Haus getrieben und später auch ihn selbst. Am liebsten hätte er das Bild auf der Stelle von der Wand gerissen. Den Dämon seiner Kindheit. Doch im selben Moment erwachte sein Vater und hob den Kopf wie ein verschrecktes Vögelchen.
»Was willst du?«, sagte Hans Bellmann auf seine immer knurrige Art und drehte sich auf den Rücken; er kam in die Vertikale und setzte die nackten Füße auf dem verschrammten Boden ab.
»Dich besuchen«, sagte Klaus Bellmann. »Das letzte |15| Mal war ich vor über einem Monat hier.« Er hielt die Saftflasche in der Hand.
»Mich besuchen?«, sagte sein Vater und strich sich mit der rechten Hand schwerfällig über den Kopf. Wie ein Gespinst aus feinen Silberdrähten umgaben die wenigen Haare seinen kantigen Schädel.
Es war immer das Gleiche: Sein Vater zeigte sich anfangs regelmäßig unwillig und wenig erfreut über seinen Besuch. Doch wenn Klaus nur hartnäckig genug blieb und ihn auf seine Pariser Zeit mit Breton und Éluard ansprach, biss der Alte an, und es kam manchmal eine muntere Unterhaltung in Gang. Bis Hans Bellmann sich irgendwann, meist etwa nach einer Stunde, wieder in sich zurückzog, vorgab, an seinen Projekten arbeiten zu müssen, und Klaus sitzen ließ und aus dem Zimmer lief.
Hans Bellmann war gegen Ende seiner Pariser Zeit, nach mehreren psychotischen Schüben, in ein Krankenhaus eingewiesen und wenig später in dessen psychiatrische Abteilung verlegt worden. Nach seiner Entlassung war er nach Deutschland zurückgekehrt und hatte einige Jahre ohne Medikamente gelebt und mehr oder weniger erfolglos versucht, seine Arbeit wiederaufzunehmen. Doch nach weiteren Schüben hatten ihn Freunde bald darauf erneut ins Krankenhaus gebracht, und über Umwege war er schließlich dort gelandet, wo er inzwischen seit neunzehn Jahren lebte.
Während eines Anfalls konnte er sich für den Heiland halten und behaupten, er könne übers Wasser laufen. Die Ärzte behandelten ihn seit Jahren mit |16| starken Antipsychotika. Dann wurden seine Gesichtszüge kantig und hart, sein Blick wurde stechend, und beim Reden überschlug sich seine Stimme. In seinen lichten Momenten aber entspannten sich seine Züge, wurde seine Stimme warm und weich, und er sprach langsam und wirkte zufrieden. In solchen Phasen glaubte Klaus Bellmann zu spüren und zu begreifen, wer und was sein Vater einmal gewesen war. Und weshalb er mit seinen Arbeiten, so kontrovers sie auch diskutiert worden waren, großen Einfluss auf nachrückende Künstler wie Horst Janssen oder den Maler und Bildhauer Paul Wunderlich gehabt hatte, die ihn früh als entscheidenden Wegweiser ihrer Kunst bezeichnet hatten.
Nun nahm Klaus den säuerlichen Geruch wieder wahr, und es bestand kein Zweifel: Es war sein Vater, der so roch. Er lief ans Fenster, öffnete es und ließ seinen Blick über das Tal mit seinen Streuobstwiesen und die sanft ansteigenden Hügel schweifen, die der Landschaft ihren Namen gaben.
»Ich hab dir was mitgebracht«, sagte Klaus Bellmann und streckte seinem Vater die Flasche hin. »Kirschsaft. Den magst du doch so gern.«
Er stellte die Saftflasche auf den kleinen, an der Wand stehenden Schreibtisch und hielt kurz inne. Auf der Arbeitsplatte lag ein blaues Din-A4-Schulheft, auf dessen Deckel sein Vater in Druckbuchstaben seinen Namen geschrieben hatte. Daneben lag ein Kugelschreiber.
Er musterte seinen Vater, der sich an den Beinen kratzte und unter dem Bett nach seinen Schlappen |17| suchte, schlug es kurz auf und sah nichts als unbeschriebene Seiten. Dann griff er sich den vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl und nahm seinem Vater gegenüber Platz.
»Wie geht es dir?«, fragte er und rieb beide Hände gegeneinander.
»Ich arbeite!«, antwortete sein Vater und kratzte sich nun im Nacken. »Ich habe immer gearbeitet! Ich mache mir Notizen, da in dem Heft.«
Er wies mit dem ausgestreckten,
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