Leiden sollst du
unter ihren schweren Polizeistiefeln, und als sie den Schlüssel mit klammen Fingern aus der Jeanstasche zog, flatterte der letzte Zettel von Julian lautlos zu Boden.
Lia zögerte einen Moment.
„Sie müssen lernen loszulassen“, hatte ihr der Polizeipsychologe dringend geraten. „Es ist auch für ihn besser, entlassen Sie Julian in seine Welt.“
Ihre Knie knackten, als sie in die Hocke ging, um den Zettel aufzuheben. Es war das Einzige, was Julian manchmal tat: Zettel mit Kreisen, Kästchen oder Linien versehen. Sie war noch nicht bereit, die Zettel einfach liegen zu lassen, aber sie hatte aufgegeben, in ihnen eine Kommunikationsform zu finden.
Als Lia die Südbrücke erreichte, war ihre Haut spröde von den lautlos geweinten Tränen. Sie galt als Optimistin, willensstark und mutig, aber in letzter Zeit verselbständigte sich manchmal die Idee in ihrem Kopf, sich in den Rhein zu stürzen. In Nächten wie diesen wurde die Sehnsucht jedes Mal ein winziges bisschen stärker. Sich einfach in das eiskalte Wasser sinken lassen, wie in ein frisch gemachtes Bett, und willenlos von einem Strudel in die Tiefe gezogen werden, um ewig zu schlafen. Nie wieder aufzuwachen, hieße auch, nie wieder denken zu müssen: Er kommt nicht zurück.
Ihr Bordcomputer meldete sich, dann erschien „Schüttler ruft an“ auf dem Display. Als Julian noch Julian war, hatte sie ihre Bereitschaftstage mehr und mehr gehasst. Jetzt übernahm sie jeden Dienst bereitwillig, denn die Arbeit rettete sie auch.
Sie drückte auf den Knopf: „Ja?“
„Wo steckst du?“
„Südbrücke.“
„Gutes Timing. Wir haben eine Leiche an der Kniebrücke, linksrheinisch.“
„Bin unterwegs. Schon jemand da?“
„Fred und die Gerichtsmedizin in Gestalt von Bauer und wer sonst noch so alles an einen gedeckten Tisch gehört. Wir treffen uns da.“
Es klickte.
Lia hielt einen Moment auf der Rheinkniebrücke und blickte zu der unwirklichen Szene hinunter. Das Ufer war bis zur Oberkasseler Brücke hell erleuchtet. Riesige Scheinwerfer verwandelten mit ihrem grellen Licht die zugeschneite Wiese am Fluss in eine Mondlandschaft. Auf der Straße standen mehrere Polizeiwagen hintereinander. Vermummte Gestalten rannten am Ufer umher und beugten sich dabei nach vorn, als könnten sie sich damit vor der Kälte schützen. In regelmäßigen Abständen stießen sie kleine Atemwölkchen aus.
Gegenüber, auf der anderen Rheinseite, lag die Altstadt, ihr Kinderspielplatz und Zuhause bis heute, links durch die Oberkasseler, rechts durch die Rheinkniebrücke umrahmt. Beide Brücken waren gesperrt, was um vier Uhr morgens noch nicht für Verkehrschaos sorgte, sondern für Grabesstille rund um den Fundort.
Vorsichtig glitt sie durch die vereiste Kurve hinunter zur Rheinuferstraße, parkte hinter den anderen Autos, zeigte mechanisch ihren Ausweis und passierte die Absperrung. Ein Kollege aus dem Streifendienst reichte Lia Gummistiefel, die sie mit auf die Wiese nahm und dort einfach fallen ließ, denn irgendwas an diesem Tatort war völlig anders und irritierte sie. Der Gerichtsmediziner kam ihr entgegen und sagte: „Das Kerlchen liegt da schon ʼne Weile, er ist übers Wasser gekommen, kein Selbstmord.“
„Woher weißt du das so schnell?“
Bauer grinste. „Der Narbe nach wurde der Mann explantiert, Selbstmord war da nicht mehr nötig.“ Er stelzte zurück Richtung Leiche.
„Ich bin der Praktikant, kann ich was tun?“, hörte Lia hinter sich und seufzte. Den hatte sie total vergessen.
„Wer hat dich denn geweckt? Dein Praktikum beginnt doch erst um acht.“
„Der Herr Schüttler.“
„Ah ja, na dann. Du hast ja schon die richtigen Stiefel an, geh nach vorn zu Bauer, das ist der Dünne da am Wasser. Ich kann dich im Moment nicht brauchen.“ Es klang barscher als beabsichtigt. Sie wollte ihn zurückrufen, tat es aber nicht, sondern folgte ihm mit dem Blick, sah ihn kurz mit Bauer sprechen, der auf das Wasser zeigte. Während Lia überlegte, was „explantiert“ bedeuten mochte, sah sie, wie der Praktikant nach rechts weglief und seinen Magen in den frisch gefallenen Schnee entleerte. Instinktiv ging sie zwei Schritte zurück und rempelte gegen einen Scheinwerfer, der leicht schwankte.
„Schätzchen“, sagte der kleine, kompakte Fred von der Spurensicherung, „du kommst nicht umhin, dir die Schweinerei da vorn anzusehen.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, seufzte und zog die Fellmütze über die Ohren. „Es ist zwar nur der
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