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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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Gewissheit, dass er das, was in diesem Augenblick mit ihm passierte, nie jemandem würde erzählen können.
    „Valium und Succhi?“, hörte er links neben sich.
    „Laufen ein.“ Eine Frauenstimme von rechts.
    „Gut, dann intubieren wir in fünf Minuten. Die Parameter?“
    „187 Zentimeter groß, 78 Kilo schwer, 24 Jahre, keine Narben, keine bekannten Vorerkrankungen, keine familiär gehäuften Erkrankungen, Sportler. Blutgruppe 0. Tumormarker: alle negativ, HIV und Hepatitis: negativ, Entzündungsparameter im Normbereich. Gewebemerkmale wie gewünscht. Computertomographie und Angiographie zeigen alle Organe regelrecht.“
    Einen kurzen Moment wehrte er sich gegen die Benebelung durch die sedierenden Medikamente und suchte vergeblich nach einer Erklärung, warum er hier lag. Sein Leben war harmonisch, er hatte gerade geheiratet, sie erwarteten ihr erstes Kind. Seine Freunde mochten ihn. Niemand wollte ihm Böses.
    Dann wurde sein Mund geöffnet und mit einer Spange versehen. Er spürte einen kurzen Würgereiz. Plötzlich empfand er eine angenehme Schwerelosigkeit.
    „Weiter bebeuteln, Gesicht abdecken!“, waren die letzten Worte, die er hörte. Die folgenden Kontraktionen und Zuckungen nahm er schon nicht mehr wahr. Es folgte die komplette Erschlaffung und Lähmung seiner gesamten Skelettmuskulatur. Der Hautschnitt von der Symphyse bis zum rechten Rippenbogen erregte seine peripheren Nervenzellen, doch der elektrische Impuls drang nicht mehr in sein Gehirn vor, das gerade für immer ausgelöscht wurde.
     
    Montag, 12. Dezember
    Lia streckte ihren Rücken durch und stöhnte. Das Zifferblatt neben Julians Bett zeigte 01:34. Das grüne Licht der Notbeleuchtung ließ sein schlafendes Gesicht fremd aussehen. Langsam zog sie ihre Hand von seinem warmen Unterarm. Julians aufgesprungene Lippen und Augenlider zuckten, dann lag er wieder still.
    Seit Monaten lag er hier. Still. Sie schloss die Augen und ballte ihre Fäuste – zu groß war der immer wiederkehrende Wunsch, ihn zu schütteln.
    „Er wird nie mehr wie früher“, hatte der Professor ihr in den vergangenen sechs Monaten versucht, begreiflich zu machen. So lange, bis sie anfing, seine medizinischen Erklärungen abzulehnen, weil sie letztlich nur ihren Glauben zersetzten. Ihren Glauben daran, dass er doch eines Tages wieder der alte Julian sein würde – lachend, frei, lebenslustig.
    Sie nahm ihren Fellmantel vom Stuhl, wickelte den Wollschal um ihren Hals, prüfte, ob die Pistole im Halfter unter dem Arm und der Autoschlüssel in der vorderen Hosentasche waren.
    „Bis nächste Woche, oder wenn ich es schaffe, auch früher.“ Das Wort Liebster schluckte sie hinunter. Als sie ihn auf die Stirn küsste, spürte sie ihre Erleichterung darüber, gehen zu können, und zugleich das Gefühl, ihn zu verraten. Vorsichtig streichelte Lia über die verheilte Wunde an seinem Hals.
    Unendlich oft hatte sie diesen Sommertag vor ihrem geistigen Auge wiederholt. Julian hatte geheimnisvoll getan, wollte ihr etwas ganz Außergewöhnliches zeigen. Die Rheinuferstraße auf der Oberkasseler Seite, alle Rheinauen von Düsseldorf übersät mit Menschen in Badekleidung – wer konnte, suchte Abkühlung vor der drückenden Hitze. Sie fuhren mit geöffneten Fenstern, und Lias Haare flatterten im Fahrtwind. „Ich werde dir gleich jemand ganz Besonderen vorstellen“, hatte Julian gegen den Lärm der Musik gerufen. Plötzlich dieses unverkennbare zischende Geräusch einer Kugel, die an Lia vorbei Julians Halsschlagader traf. Einen Moment war die Welt völlig lautlos geblieben, dann kam der Aufprall auf ein geparktes Auto. Julian verlor das Bewusstsein und hatte ihr nicht mehr sagen können, wo er mit ihr hinfahren und wen er ihr hatte vorstellen wollen.
    Wie lebendig hatte Lia sich bis zu diesem Tag gefühlt: berührt, beschützt, geliebt von dem Mann, der ihr alles bedeutete. Sie hatte um die Aufklärung des Mordanschlags gekämpft und verloren, sie hatte um ihre Liebe gekämpft und spürte, dass sie auch diesen Kampf verlieren würde.
    Der Flur des luxuriösen Pflegeheims, das Julians Eltern finanzierten, war dunkel und leer. Im Schwesternzimmer brannte eine kleine Lampe neben der Kaffeemaschine. Schwester Renate war offenbar auf einer anderen Station unterwegs. Lia schrieb ihr eine kurze Notiz, dass sie jetzt weg sei.
    Die kalte Nachtluft schmerzte beim Einatmen. Wie kann eine Welt so leer sein, dachte sie, als sie über das endlose Weiß des Parks blickte. Der Schnee knirschte

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