Leiden sollst du
führte den Lichtpunkt einmal um den Leichnam herum. „Die weiße Hautfarbe rührt daher, dass der Tote kaum noch Blut in den Adern hat. Deshalb sind auch die Totenflecke so minimal ausgeprägt. Herz, Leber, Nieren, Milz, Bauchspeicheldrüse, Lunge, Bronchien und Augen wurden fachmännisch entnommen. Für die Knochen, Knorpelmasse, Hirnhäute, Bänder, Knochenmark und Haut hatte offenbar niemand Verwendung. Was eher ungewöhnlich ist, denn normalerweise nimmt man alles, was transplantierbar ist. Zumindest soweit es im Ausweis steht oder was die Verwandten entscheiden. Nur bei Haut und Augen tut man sich manchmal schwer. Wie dem auch sei, der junge Mann war höchstens ein paar Stunden im Wasser und vielleicht zwei oder drei Tage im Uferschlamm eingefroren und vom Schnee zugedeckt.“
Wieder breitete sich Schweigen aus. Die leeren Augenhöhlen klagten die Betrachter stumm an. Für Lia drückte dieses Gesicht eine maßlose Empörung aus.
„Ausgeschlachtet“, sagte Karla mit rauchiger Stimme, „und sicher ist, dass hier kein Stümper am Werk war. Der Kerl hat eine Narkose bekommen, ein Muskelrelaxans, und er wurde intubiert. Es sieht nach einer normalen Explantation eines hirntoten Patienten aus. Allerdings war er schlecht vernäht. Er hat keine Papiere. Es gibt keine Anzeichen eines Unfalls, der vielleicht zum Hirntod geführt hätte.“ Sie schaute Bauer von der Seite an, dann Alexander Schüttler.
„Wir haben es sehr wahrscheinlich mit illegalem Organhandel zu tun.“ Schüttler schluckte.
„Das heißt?“, fragte Lia.
„Jemand mit Geld, sehr, sehr viel Geld, brauchte genau die Organe dieses Mannes hier.“
„Alle?“
Gegen ihren Willen musste Karla über Lias Frage lachen. „Nein, aber wenn einer nur das Herz gebraucht hat, wäre es doch schade und wahrscheinlich weniger lukrativ, den Rest bis zum Verfallsdatum liegen zu lassen“, bemerkte sie trocken.
Lia rieb sich die Augen und schaute auf die Leinwand. „Seid ihr sicher?“
Fred schaltete den Projektor aus und das Deckenlicht wieder an.
„Was ist so ein Mann, in Einzelteile zerlegt, denn wert?“, fragte Lia.
„Mindestens mehrere Hunderttausend, je nach Auftraggeber auch mehr. Dieser Markt funktioniert wie alle freien Märkte, Angebot und Nachfrage“, antwortete Schüttler und stand auf. „Wir arbeiten heute weiter die Routine ab. Habt ihr schon was?“
Lia schüttelte den Kopf.
Schüttler fuhr fort: „Dieser Fall riecht nach BKA. Ich rufe gleich an, und wir sehen uns um 17 Uhr wieder.“
Pet vergrub sich in alle einschlägigen Datenbanken, die Lia ihm genannt hatte, und wählte anschließend beharrlich eine Telefonnummer nach der anderen. Er wollte gern seinen peinlichen Einstieg wieder wettmachen, durch ein Ergebnis, das sich sehen lassen konnte. Im Norden war er am Nachmittag bereits bis Bremen gekommen, im Westen bis an die Grenzen nach Belgien und Holland, im Süden bis Nürnberg und im Osten bis Dresden. Einerseits überkamen ihn gewisse Zweifel am Sinn der weiteren Suche, andererseits traute Pet sich nicht, Lias Anweisungen nicht zu folgen.
Er fuhr sich durch die Haare und starrte auf seine Tabelle: keine Vermissten, auf die die Beschreibung passte, keine Beerdigung ohne Leiche, laut Datenbank keine Unfälle mit Leichenwagen oder Krankenwagen. Vielleicht hatte der Tote im Kofferraum eines normalen Autos gelegen?
Pet holte sich auf dem menschenleeren Flur einen neuen Kaffee, rief noch einmal bei der Verkehrspolizei an und lauschte dem Text der Warteschleife.
Lia kam aus der Gerichtsmedizin zurück. Karla hatte ihr Bilder gezeigt, wie eine explantierte Leiche, die zur Bestattung freigegeben ist, normalerweise aussieht. Lia gruselte es beim Gedanken, dass ein gesunder Mensch ermordet worden war, weil irgendwo ein kranker Mensch genug Geld hatte, um das zu bezahlen.
Im Polizeipräsidium wurde sie auf ihrem Flur von Fred aufgehalten, der sie mit unmissverständlicher Geste in Schüttlers Büro bat. Der aufgeräumte schwarze Schreibtisch ihres Chefs war frisch poliert, das Zimmer roch nach seinen Zigarren und dem schweren Leder der Stühle, die er sich selbst mitgebracht hatte. Lauernd blickte er sie an. Er hatte die Hände auf die Knie gelegt, sein linker Arm endete in einer Prothese. Lia wusste, dass ihn bis heute manchmal der Phantomschmerz plagte. Sie setzte sich unaufgefordert ihm und Fred gegenüber.
Schüttler räusperte sich. „Das BKA prüft den Fall. Die Ermittlungen bleiben zumindest bis dahin in deinen
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