Leiden sollst du
Menschen versammelten sich um das Doppelgrab der Familie Kranich. Die linke Seite war ausgehoben, riesige Gestecke und Kränze bedeckten die rechte. Tannenzweige lagen aufgehäuft davor. Herzzerreißend schluchzte die Frau neben ihr, wodurch Marie eine Gänsehaut bekam.
In dem Sarg vor ihnen lag ein siebzehnjähriges Mädchen. Zumindest war sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens – und vermutlich Todes – in diesem Alter gewesen. Im August des vergangenen Jahres war sie das letzte Mal auf einer Party in Porz, die in einem Haus nahe dem Rheinufer stattfand, gesehen worden. Danach hatte sich ihre Spur verloren. Die Ermittlungen der Polizei waren im Sande verlaufen und man ging davon aus, dass Julia zu viel getrunken hatte und versehentlich in den Fluss gestürzt war. Erst jetzt war ihre Leiche in Chorweiler nahe der Stadtgrenze ans Ufer gespült worden. Sie musste monatelang unter Wasser festgehangen haben. Bei der Vorstellung wurde Marie übel.
Ein Teenager auf der Schwelle zur Frau. Julia würde nie ihre Ausbildung beenden, von zu Hause ausziehen, ihre große Liebe finden, heiraten, Kinder bekommen, Karriere machen, die Welt bereisen oder Großmutter werden. Das Abenteuer Leben begann doch erst richtig, wenn man flügge wurde.
Junge Menschen sollten nicht sterben. Obwohl es Gerüchte gab, dass die Siebzehnjährige freiwillig aus dem Leben geschieden war, glaubte Marie nicht an Suizid. Sie hatte das Mädchen einmal mit Ben in der City getroffen, als die beiden ein Eis essen gegangen waren. Julia hatte ihn angelächelt und verschämt den Blick gesenkt. Ben war knallrot angelaufen. Wenn man verschossen war, brachte man sich nicht um.
Oder gerade deshalb? Hatte sich das Verhältnis zwischen den beiden Jugendlichen geändert?
Zumindest waren sie bis zu ihrem Verschwinden ein Paar in der Tanzschule Dancemania gewesen. Sie hatten sich dort im Salsa-Kurs kennengelernt. Da sie beide ohne Partner gekommen waren, hatte der Lehrer sie zusammengebracht. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Sehr gut sogar.
Eine schicksalhafte Begegnung.
Doch seit Julia verschwunden war, wollte Ben nicht mehr über sie reden. Als hätte sie ihn verlassen und er wäre sauer darüber. Er reagierte geradezu aggressiv, wenn Marie das Thema auf Julia lenkte.
Marie hatte das Mädchen auf den ersten Blick gemocht. Julia war kein Hungerhaken gewesen, sondern ein sportlicher Typ mit langen hellblonden Haaren und Sommersprossen. Sie trat lässig auf und trug damals Jeans und Turnschuhe, aber ihr enges Trägertop brachte ihre Kurven dennoch gut zur Geltung.
Marie hatte sie als strahlend und lebendig empfunden – und nun lag das Mädchen in dem honigfarbenen Kiefernsarg, der vorsichtig in das Loch im Erdboden gelassen wurde. Sie hatte erwartet, dass Ben, der sich bisher krampfhaft tapfer gab, zusammenbräche, aber er war stocksteif in ihren Armen und schaute zu Boden. Hart und weiß wie ein Kalkstein.
Irritiert betrachtete sie zuerst ihn und dann die Umherstehenden.
Alle waren völlig aufgelöst. Der Augenblick, in dem der Sarg hinabgelassen wurde, und man wusste, dass dort unten in der Holzkiste ein Mensch lag, einer, den man liebte, mit dem man schöne Momente geteilt hatte und der nun endgültig weg war, war der emotionalste. Doch Ben hielt weiterhin seinen Kokon aufrecht, während neben ihnen geweint und gewimmert wurde.
Dabei erkannte Marie mit dem geschulten Blick der Gerichtszeichnerin, dass neben dem Sonnenschein an diesem traurigen Tag noch etwas anderes unpassend war. Es waren Menschen anwesend, die nicht zur Trauergesellschaft gehörten.
Zwei Männer schossen Fotos. Sie sahen mit ihren professionellen Kameras und ihren konzentrierten Mienen nicht wie Trauergäste aus. Daher schlussfolgerte Marie, dass sie von der Presse sein mussten. Pietätlos schlich der eine umher, während der zweite sich mehr im Hintergrund hielt und dezent fotografierte. Der dreistere der beiden lichtete auch den Sarg und die Kränze ab.
Der andere jedoch konzentrierte sich auf die Besucher. Er nickte einem Mann und einer Frau zu, die unauffällig in der Menge standen, aber distanziert wirkten. Zudem gingen sie nicht an das Grab, um einen Zweig auf den Sarg zu werfen, wie die anderen Anwesenden, sondern sie blieben stehen und beobachteten die Gäste.
Dieser Scanner-Blick kam Marie äußerst bekannt vor. Ein wenig argwöhnisch, prüfend, forschend und sezierend.
Polizisten in Zivil. Und ein Polizeifotograf.
Marie konnte sich beim besten Willen nicht
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