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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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verheiratet waren, konnten das nicht nachvollziehen. Als Begründung sagten sie lediglich: „Das macht man als Ehepaar einfach so.“ Aber ihre Konten zusammenzulegen war einfach nicht notwendig. Daniel, der mehr verdiente, zahlte die Miete und die Nebenkosten sowie die Hausratversicherung, Marie dagegen übernahm die Gebühren für GEZ, Telefon- und Internetflatrate, jeder kümmerte sich um sein Auto und sein Handy selbst und ging mal einkaufen, sie verdienten beide genug und waren großzügig. Die Maschinerie ihrer Ehe lief wie geschmiert, auch ohne dass sie sich vollkommen verzahnten.
    Ihr Problem war anders gelagert. Seit Daniel im März einen Wirbelkörperbruch in einem der unteren Brustwirbel erlitten hatte, hatte er sich verändert.
    Der Frühling war ungewöhnlich früh in NRW eingezogen. Bereits im März waren die Temperaturen auf 25 Grad Celsius gestiegen. Daniel, der immer sportlich gewesen war, hatte einen Adrenalinschub gehabt, den er unbedingt abtrainieren musste. Daher hatte er sich dafür entschieden, einen dieser Klettergärten auszuprobieren, die seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Seine Wahl fiel auf eine stillgelegte Talbrücke, an der diverse Parcours angebracht worden waren. Doch an besagtem Tag standen die Zeichen schlecht für ihn. Die feuchte Nacht hatte alles mit Morgentau überzogen, ein neuer Trainer betreute ihn und ließ sich von seinen Frühlingsgefühlen und einer hübschen Kollegin ablenken, sodass er das Sicherungsseil nicht korrekt anbrachte. Eine Weile ging es gut. Mutig und aufgepeitscht vom Kick, den das Spiel mit der kalkulierten Gefahr, dem Kitzel der Höhenangst und der sportlichen Höchstleistung in ihm auslöste, tastete sich Daniel immer weiter über das Tal vor. Plötzlich rutschte er ab, die Leine griff nicht und er fiel schreiend in die Tiefe. Als er rücklings auf dem Boden aufschlug, verlor er das Bewusstsein und wachte erst wieder im Krankenhaus auf.
    Seitdem saß er im Rollstuhl und blies Trübsal. Daniel Zucker war nicht mehr der Mann, den Marie auf dem Polizeipräsidium in Kalk durch ihre Nebentätigkeit als Gerichtszeichnerin kennengelernt hatte. Er hatte sich verändert. Für sie stellte nicht etwa die Querschnittslähmung selbst, die ihn seinen Unterkörper von der Hüfte abwärts nicht mehr spüren ließ, ein Problem dar, sondern seine verlorene Lebenslust.
    Leise, als wollte Marie verhindern, dass Daniel sie hörte, schloss sie die Wohnungstür, legte ihr Schlüsselbund und ihre Handtasche auf den Schuhschrank in der Diele und spähte quer durchs Wohnzimmer zur Dachterrasse, auf der er saß. Die Kübel, die sie liebevoll mit Pflanzen und Blumen bestückt hatte, umgaben ihn wie ein kleiner Urwald und schützten ihn vor fremden Blicken. Aber es konnten sie ohnehin nur die Bewohner aus den gegenüberliegenden Dachwohnungen sehen, denn ihr Apartment befand sich im Obergeschoss und alle Häuser in dieser Straße hatten nicht mehr als drei Stockwerke.
    Während sie ihren beige-braun karierten, gefütterten Blazer an der Garderobe am Eingang aufhängte, betrachtete sie Daniel. Er saß, versunken in eine Lektüre, die er auf seinem Tablet PC las, mit dem Profil zu ihr und hatte sie bisher nicht bemerkt. Wie gut er aussah! Noch immer hatte er breite Schultern. Er war nie der Typ gewesen, der ins Fitnessstudio ging und Gewichte stemmte, aber er hatte viele andere Sportarten ausprobiert, war sogar mal ein Jahr lang mit Freunden regelmäßig auf dem Rhein rudern gegangen. In geschlossenen Räumen hielt er sich ungerne auf.
    „Dort stinkt es nach Schweiß und Egozentrik, denn die meisten treiben nur Sport, um gut auszusehen und ihren aufgepumpten Körper dem eigenen Spiegelbild und den Anwesenden zu präsentieren“, hatte er einmal zu ihr gesagt.
    Er brauchte frische Luft und liebte Mannschaftssport. Vor dem Schicksalsschlag hatte er sich mit seinen Kollegen vom Kriminalkommissariat 11 auf dem Bolzplatz getroffen, um zu kicken, oder am Rheinufer, um Beachvolleyball zu spielen. Nur im Winter hatte er sich dazu überreden lassen, in der Halle zu squashen.
    Noch sah er mit seinen schwarzen Haaren, die er – weil die Frisur leicht herausgewachsen war, da er nur noch selten zum Frisör ging – zurückgegelt hatte, und dem gestutzten Bart um Mund und Kinn herum aus wie ein kerniger Typ. Aber wie lange würde es dauern, bis seine Muskeln abbauten? Wie er auf dem Balkon saß, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt und mit hängenden Schultern, wirkte er

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