Leiden sollst du
vorstellen, was sie auf der Beisetzung wollten, aber sie war sich sicher, dass es Ordnungshüter waren, immerhin war sie mit einem verheiratet. Sie hatte Daniel gefragt, ob er mit zur Beisetzung kommen wollte, aber seit er im Rollstuhl saß, mied er Menschenansammlungen.
„Ich komme mir dann wie ein Pinscher zwischen den Füßen eines aufgebrachten Mobs vor“, sagte er in seiner liebenswert bissigen Art.
Noch blieb Marie stehen, statt sich in die Schlange einzureihen, die sich vor dem Grab bildete. Die Trauergäste warfen Zweige auf den Sarg, schüttelten zwei Männern die Hände und sprachen leise mit ihnen. Das mussten Julias Vater Horst und ihr Bruder Markus sein, Marie hatte im Kölner Stadtanzeiger über sie gelesen.
Sie standen nebeneinander, als wären sie Fremde. Niemand stützte sie, nicht einmal sie sich gegenseitig. Die Trauernden sprachen ihnen ihr Beileid aus und gingen rasch weiter, als wollten sie nicht mehr Zeit als nötig mit den beiden Männern verbringen. Aber vielleicht täuschte sich Marie auch und die Menschen wussten nur nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten.
Ihr fiel erneut ein Detail auf, das nicht passte. Als Kostümbildnerin und Gerichtszeichnerin besaß sie ein gutes Auge für Details, die falsch waren. Obwohl Horst Kranichs Blick von Schmerz getrübt war und sein Sohn tränennasse Wangen hatte, schauten sie gleichzeitig so zornig, als wollten sie jeden Moment ein Massaker unter den Trauernden anrichten.
Julias Vater war ein kleiner gedrungener Mann, der leicht nach vorne gebeugt stand, als drückte ihn sein Stiernacken wie eine Last nach unten, mit dicken Lippen und Blumenkohlnase. Sein dunkelblaues kurzärmeliges Hemd spannte sich über seinen medizinballrunden Bauch und der Knopf seiner verwaschenen grauen Jeans fehlte. Er trug nicht einmal Schwarz. Hielt er es nicht für nötig? Oder hatte er kein Geld, um sich neue Kleidung für das Begräbnis zu kaufen?
Hätte sein Sohn ihm nicht unter die Arme greifen können? Markus Kranich, sie schätzte ihn auf Ende zwanzig, sah adrett aus in seiner dunklen Baumwollhose und seinem Button-down-Hemd, aber seine Miene wirkte ebenso feindlich und Marie fragte sich unweigerlich, warum sich die Trauer der beiden Männer in Form von Wut zeigte. Julia starb durch einen selbst verschuldeten Unfall. Sie stürzte betrunken in den Rhein und konnte sich nicht ans Ufer retten. Ihr Tod war eine Tragödie.
Marie versuchte Ben anzuschieben, damit er zum Grab ging und seiner Freundin die letzte Ehre erwies, aber er war wie ein Fels und bewegte sich nicht von der Stelle. „Du solltest dich von ihr verabschieden, indem du einen Zweig hineinwirfst.“
„Ich kann nicht.“
„Tu es für sie. Aber auch für dich.“
„Das macht sie auch nicht wieder lebendig.“
„Es hilft dir, loszulassen.“
Er presste seine blutleeren Lippen aufeinander.
Liebevoll strich sie über seine Haare. „Dann lass uns wenigstens ihrer Familie kondolieren. Es ist unhöflich, zu gehen, ohne ihnen dein Beileid ausgesprochen zu haben.“
„Ich kenne sie nicht einmal.“
„Aber du kanntest ihre Tochter.“
„Wir besuchten nur dieselbe Tanzschule.“
„Nur? Ihr wart Freunde.“
„Nein!“, sagte er barsch und schüttelte ihre Arme ab. Er wandte sich ab, ging in Richtung Parkplatz davon und ließ sie einfach stehen.
Die ganze Zeit hatte sie darüber nachgedacht, was an diesem Vormittag auf dieser Beisetzung nicht stimmte, dabei war die Antwort auf diese Frage direkt neben ihr gewesen.
Es war Benjamin.
Er wirkte verstört. Nicht nur in sich gekehrt, sondern er kapselte sich völlig von seiner Umwelt ab. Er war kalt und abweisend, seine Miene glich einer Maske. Weder ihre tröstenden Worte noch Ermahnungen drangen zu ihm durch.
Er kam ihr fremd vor.
Das war nicht der Ben, den sie seit achtzehn Jahren kannte. Nicht der sensible Jugendliche, der mit sechzehn Jahren einen Sommer lang nachmittags Hunde aus dem Tierheim geholt hatte und mit ihnen spazieren gegangen war, der feuchte Augen bekam, wenn er einen Fernsehbericht über Kindersoldaten in Kriegsgebieten ansah, und der in den Bleistiftzeichnungen, die er in sein kleines Notizheft zeichnete, die Emotionen anderer Menschen so präzise einfing, wie Marie es erst mit viel Übung hatte lernen müssen.
Der Benjamin Mannteufel, der immer schneller von dem Begräbnis wegging, sodass er kurz davor stand, in den Laufschritt zu verfallen, war ein anderer Mensch, einer, der Marie nicht gefiel und der ihr Angst
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