Leiden sollst du
stand:
Willkommen in meinem Spiel.
Der Einsatz ist deine Familie.
2
Etwas stimmte nicht. Marie Zucker ließ ihren Blick über die zahlreichen Trauergäste gleiten, konnte aber nicht sagen, was es war. Doch das ungute Gefühl ließ sie einfach nicht los.
Die Kapelle war so voll, dass Benjamin und sie am Eingang stehen mussten, dicht gedrängt mit anderen Gästen, bis der Trauergottesdienst zu Ende war. Die Anteilnahme war groß, aber das wunderte Marie nicht, denn die Tote war zum einen sehr jung gewesen und zum anderen unter tragischen Umständen verstorben.
Nun flossen die Menschen aus dem Gotteshaus, dem selbst die zahlreichen Blumenkränze, Gestecke und Schleifen mit Abschiedsgrüßen die Kühle nicht nehmen konnten, und folgten den Sargträgern über den Westfriedhof. Marie schaute über ihre Schulter hinweg zurück zu der Kapelle und fragte sich einmal mehr, wie jemand ein solch unansehnliches, graues und kaltes Betongebäude in eine so schöne Parkanlage hatte bauen können.
Endlich fiel ihr ein Detail auf, das nicht recht ins Bild passte. Die Sonne schien an diesem traurigen Vormittag. Marie blickte kurz zum strahlend blauen Himmel auf und dachte, dass der Himmel eigentlich weinen müsste. Stattdessen zeigte sich einer der letzten Septembertage von seiner schönsten Seite. Welch eine Ironie!
Aber ihre innere Unruhe ließ nicht nach. Da war noch etwas, das sie aufwühlte, ohne es bisher genau benennen zu können.
Marie und Ben reihten sich in den Strom der schwarz gekleideten Menschen ein, die sich über den Kirchhof schlängelten wie ein überdimensionales Band aus Trauerflor. Je näher sie der Grabstätte kamen, desto mehr schluchzten die Anteilnehmenden. Auch Maries Magen ballte sich zusammen und der Kloß im Hals ließ sie unentwegt schlucken. Ben dagegen schien immer mehr in sich zusammenzusacken, als wollte er sich in seinem eigenen Körper verkriechen.
Erst hatte ihr Cousin gar nicht zur Beerdigung kommen wollen, vor allen Dingen nicht, als seine Mutter ihm vorschlug, einen Urlaubstag zu nehmen und ihn zu begleiten. Das Verhältnis der beiden war nicht einfach. Aber davon konnte Marie auch ein Lied singen! Ihre Mutter war allerdings keine Helicopter Mom, sondern ihre Differenzen hatten etwas mit Irene Basts Erwartungshaltung und ihren hochgesteckten Zielen zu tun. Marie hatte Ben überredet, mit ihm zu Julias Beisetzung zu gehen und ihn danach zum Gymnasium zu fahren, damit er im Abiturjahr nicht zu viel vom Unterricht versäumte.
Der Kies knirschte unter den Sohlen ihrer kniehohen cognacfarbenen Lederstiefel, als sie vom Hauptgang abbog und zwischen fremden Gräbern hindurch zu dem Loch ging, das frisch ausgehoben worden war. Sie musste Ben mit sich ziehen. Für einen Moment machte es den Anschein, als wollte er geradeaus in Richtung Ausgang weitergehen, doch dann ließ er sich von ihr führen. So blass hatte sie ihn noch nie gesehen. Er zog seinen Kopf noch weiter zwischen seinen Schultern ein.
Trotz der elf Jahre Altersunterschied verband sie eine enge Freundschaft. Da war etwas Besonderes zwischen ihnen, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war. Die Chemie stimmte einfach. Vermutlich hatte sie die Geduld, die Heide Mannteufel nicht besaß, und ließ ihm seine Freiheit. Er dagegen inspirierte sie mit seinen jugendlichen Ansichten. Aber da war noch mehr, ein Band, das nicht zu erklären war.
Sie legte einen Arm um seine Schulter und drückte ihn an sich. Obwohl er einen Kopf größer war als sie, wirkte er geradezu fragil. Als bräuchte sie ihn bloß anstoßen und er würde in tausend Stücke zerspringen. Das war nicht seine erste Beerdigung, sein Großvater war an Krebs verstorben, als Ben acht Jahre gewesen war. Aber sein Opa war krank gewesen und er selbst vielleicht noch zu jung, um zu begreifen. Die Situation jetzt war vollkommen anders. Die Tote war in seinem Alter, eine Schülerin wie er, mit Träumen, Hoffnungen und Zukunftsplänen, die sie vermutlich mit ihm geteilt hatte. Nicht nur ihre Eltern trauerten um sie, sondern eine Berufsschulklasse, das Hotel, in dem sie eine Ausbildung zur Köchin absolvierte und eine Tanzschule. Ein junges Leben, das in voller Blüte stand, einfach abgeschnitten.
Obwohl Marie Julia Kranich nur einmal getroffen hatte, traten Tränen in ihre Augen. Ihre Eingeweide krampften sich zusammen und sie hielt Ben fester, nicht nur um ihm Halt zu geben und in diesem schweren Moment beizustehen, sondern auch weil sie selbst fassungslos war.
Die
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