Leises Gift
es im Augenblick vielleicht nicht glauben, doch ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Mir ist bewusst, dass wir über persönliche Angelegenheiten sprechen, sehr intime sogar. Aber das ist nicht neu für Sie, nicht wahr? Das müssen Sie im Rahmen Ihrer Arbeit sehr häufig. Wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen, geht die Privatsphäre über Bord.«
Sie hatte vollkommen recht. Viele der Fragen auf seinem Patientenfragebogen waren sehr zudringlich. Wie viele Sexualpartner hatten Sie im Verlauf der letzten fünf Jahre? Sind Sie zufrieden mit Ihrem Sexleben? Chris wandte den Blick von Agentin Morse ab, erhob sich und versuchte, im Zimmer auf und ab zu gehen, in einem Kreis von exakt zweieinhalb Schritten Durchmesser. »Was genau wollen Sie mir sagen? Keine weiteren Spielchen. Spucken Sie’s aus.«
»Ihr Leben ist möglicherweise in Gefahr, Dr. Shepard.«
Chris blieb stehen. »Sie meinen, meine Frau will mich ermorden?«
»Ich fürchte ja.«
»Du meine Güte! Sie müssen den Verstand verloren haben! Ich werde Thora auf der Stelle anrufen und dieser Sache auf den Grund gehen!« Er griff nach dem Telefonhörer.
Agentin Morse erhob sich. »Bitte tun Sie das nicht, Dr. Shepard.«
»Warum nicht?«
»Weil Sie möglicherweise die einzige Person sind, die dabei helfen kann, den-oder diejenigen zu stoppen, die hinter diesen Morden stecken.«
Chris nahm die Hand vom Hörer. »Wieso denn das?«
Agentin Morse holte tief Luft. »Wenn Sie ein Ziel sind – das heißt, wenn Sie letzte Woche zu einem Ziel wurden –, haben Ihre Frau und dieser Scheidungsanwalt keine Ahnung, dass Sie von ihren Aktivitäten wissen.«
»Und?«
»Und das bringt Sie in eine einzigartige Position. Sie können uns dabei helfen, ihnen eine Falle zu stellen.« »Sie wollen, dass ich Ihnen dabei helfe, meiner Frau eine Falle zu stellen? Damit sie wegen versuchten Mordes verurteilt wird?«
Morse drehte die Handflächen nach oben. »Wollen Sie lieber so tun, als wäre nichts von alledem passiert, und mit sechsunddreißig Jahren sterben?«
Er schloss für einen Moment die Augen, während er versuchte, sein Temperament zu zügeln. »Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, fürchte ich. Ihre Argumentation ist unlogisch.«
»Inwiefern?«
»Diese Männer, von denen Sie annehmen, sie hätten ihre Frauen ermordet … sie haben das getan, damit sie ihre Vermögen nicht teilen und keine astronomischen Unterhaltszahlungen leisten mussten, richtig?«
»In den meisten Fällen, ja. Doch nicht alle Opfer waren Frauen.«
Chris verlor vorübergehend den Faden und starrte sie an.
»In wenigstens einem Fall«, fuhr Agentin Morse fort, »möglicherweise auch in zweien, ging es um das Sorgerecht für die Kinder und nicht um Geld.«
»Auch damit liegen Sie meilenweit daneben. Thora und ich haben keine Kinder.«
»Ihre Frau hat ein Kind. Einen neunjährigen Sohn.«
Er lächelte. »Sicher. Aber Thora hatte Ben schon, bevor sie Red Simmons geheiratet hat. Sie würde automatisch das Sorgerecht erhalten.«
»Sie haben Ben adoptiert, Dr. Shepard. Was mich zu einem weiteren wichtigen Punkt bringt.«
»Und der wäre?«
»Wie Ihre Frau an ihr Geld gekommen ist.«
Chris lehnte sich zurück und starrte Agentin Morse an. Wie viel wusste sie über seine Frau? Wusste sie, dass Thora die Tochter eines berühmten Chirurgen von der Vanderbilt war, der seine Familie verlassen hatte, als Thora acht Jahre alt gewesen war? Wusste sie, dass Thoras Mutter eine Trinkerin war? Dass Thora wie eine Wildkatze gekämpft hatte, nur um ihre Jugend zu überstehen, und dass es angesichts ihres Hintergrunds eine erstaunliche Leistung war, dass sie die Schwesternschule bestanden hatte?
Wahrscheinlich nicht.
Morse kannte wahrscheinlich nur die Legende, die in der Gegend kursierte. Dass Thora Rayner im St. Catherine’s Hospital gearbeitet hatte, als Red Simmons, ein einheimischer Ölbaron, der neunzehn Jahre älter gewesen war als sie, mit einem Herzinfarkt in die Notaufnahme eingeliefert worden war, dass sie und Red sich während seines Aufenthalts im Krankenhaus nahegekommen waren und sechs Monate später geheiratet hatten. Chris kannte diese Geschichte gut, denn er hatte Red Simmons in den letzten drei Jahren seines Lebens behandelt. Chris hatte Thora als Krankenschwester gekannt, doch er hatte sie in den Jahren nach Reds Herzanfall besser kennen gelernt. Er hatte erfahren, dass Red seine »kleine Wikingerin«, eine Anspielung auf Thoras dänische Herkunft, aufrichtig geliebt hatte und
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