Leises Gift
sehr von dem unterschied, was er in jenen Patienten fand, die Woche für Woche versuchten, sich Drogen zu erschleichen.
»Mord ist ein Verbrechen, für das die Bundesstaaten zuständig sind, nicht wahr?«, sagte er.
»Das ist richtig. Doch wenn man jemanden ermordet, beraubt man ihn auch seiner Bürgerrechte.«
Chris wusste, was sie damit andeuten wollte. Mehrere Jahrzehnte zurückliegende Mordfälle mit rassistischem Hintergrund waren wieder aufgerollt und zuvor freigesprochene Ku-Klux-Klan-Mitglieder verurteilt worden, weil sie die Bürgerrechte ihrer Opfer verletzt hatten. Und trotzdem … Irgendetwas schien nicht so recht zu stimmen an der Geschichte, die Alexandra Morse ihm erzählt hatte.
»Das erste Opfer, von dem Sie gesprochen haben – falls es sich um Mordopfer handelt –, war Ihre Schwester, richtig? Bedeutet das nicht eine Art Konflikt? Ich zum Beispiel darf keine Familienangehörigen wegen irgendeiner ernsteren Erkrankung behandeln. Sollte nicht jemand anderes wegen des Todes Ihrer Schwester ermitteln und nicht Sie?«
»Offen gestanden, ja. Doch es gibt niemanden sonst, dem ich zutrauen würde, dass er es richtig macht.« Agentin Morse blickte zum ersten Mal auf ihre Uhr. »Wir haben jetzt keine Zeit, um diese Angelegenheit weiter zu vertiefen, Dr. Shepard. Ich werde mich bald wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich möchte nicht, dass Sie von Ihrer alltäglichen Routine abweichen, dass es Ihrer Frau oder sonst jemandem auffallen würde.«
»Wem sonst sollte es auffallen?«
»Der Person, die Ihre Ermordung plant, beispielsweise.«
Chris biss sich auf die Lippen. »Wollen Sie damit andeuten, dass jemand mich beobachtet?«
»Ja. Sie und ich dürfen uns nicht gemeinsam in der Öffentlichkeit blicken lassen.«
»Warten Sie! Sie können mir doch nicht so eine Geschichte erzählen und dann mir nichts, dir nichts hinausmarschieren! Geben Sie mir Personenschutz? Werden FBI-Agenten mich bewachen, wenn ich nach draußen gehe?«
»So ist das nicht, Dr. Shepard. Niemand wird versuchen, Sie mit einem Gewehr zu erschießen. Wenn wir die Vergangenheit als Richtschnur nehmen – und das kann man so gut wie immer, denn ein Verbrecher neigt dazu, sich an ein erprobtes Muster zu halten –, wird man Ihren Tod wie einen Unfall aussehen lassen. Sie sollten im Verkehr aufpassen, und Sie sollten nicht irgendwo spazieren gehen oder Joggen oder Radfahren, wo starker Verkehr herrscht. Niemand kann Sie schützen, wenn Sie dort angegriffen werden. Doch am Wichtigsten ist die Frage nach Essen und Trinken. Sie sollten in nächster Zeit nicht mehr zu Hause essen. Nicht einmal Wasser in Flaschen sollten Sie anrühren. Nichts, das Ihre Frau zubereitet oder eingekauft hat.«
»Sie machen Witze.«
»Mir ist bewusst, dass es schwierig sein könnte, doch wir arbeiten daran. Um die Wahrheit zu sagen, ich denke, wir haben ein großzügiges Zeitfenster. Ihre Frau hat sich eben erst mit diesem Anwalt in Verbindung gesetzt, und diese Art von Mord erfordert akribische Planung.«
Chris bemerkte einen hysterischen Unterton in seinem eigenen Lachen. »Das ist ein gewaltiger Trost, Agentin Morse, ganz ehrlich. Ich fühle mich jetzt schon viel sicherer.«
»Hat Ihre Frau Pläne, in nächster Zeit zu verreisen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut. Das ist ein gutes Zeichen.« Morse nahm ihre Handtasche auf. »Sie schreiben mir jetzt besser dieses Rezept aus.«
»Was?«
»Das Levaquin.«
»Oh. Richtig. Fast hätte ich’s vergessen.« Er nahm einen Block aus der Tasche und schrieb eine Verordnung über das geforderte Antibiotikum aus. »Sie denken auch an alles, wie?«
»Niemand denkt an alles, Dr. Shepard. Seien Sie froh darüber. Eben deshalb schnappen wir die meisten Kriminellen früher oder später. Weil sie dumme Fehler machen. Selbst den Besten unterläuft gelegentlich ein Patzer.«
»Sie haben mir keine Visitenkarte gegeben oder so etwas«, sagte Chris. »Keine Referenzen, die ich überprüfen könnte. Sie haben mir lediglich einen Dienstausweis unter die Nase gehalten, und ich vermag nicht einmal zu sagen, ob er gefälscht ist. Ich will eine Telefonnummer. Irgendetwas.«
Agentin Morse schüttelte den Kopf. »Sie können nicht beim FBI anrufen, Dr. Shepard. Sie dürfen überhaupt nichts tun, das den Killer warnen könnte. Möglicherweise werden Ihre Telefone abgehört, und das schließt Ihr Mobiltelefon mit ein. Das Handy ist sogar am leichtesten zu überwachen.«
Chris starrte sie sekundenlang an. Er wollte sie fragen,
Weitere Kostenlose Bücher