Leises Gift
erlitten haben.
Tarver kehrte zum Schreibtisch zurück. In seinen Augen war keine Regung zu erkennen. »Sie sehen, welche Folgen es hat, wenn jemand nicht kooperieren will. Ich gebe Ihnen noch eine letzte Chance, Andrew. Aber vorher möchte ich Ihnen etwas erklären. Ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten. Wenn ich Sie töte, bringt das einen Haufen Probleme für mich. Ihr EX-NIHILO-Mechanismus beispielsweise. Ganz zu schweigen von der Morduntersuchung. Aber wenn ich Sie am Leben lasse, gibt es keine Mordermittlung, und Sie selbst kümmern sich für mich um EX NIHILO. Sie können dieses Geständnis nicht an die Behörden leiten, weil Sie selbst sich ebenfalls schuldig gemacht haben. Ihnen sind die Hände gebunden, so wie es von Anfang an war. Sehen Sie? Sie können diese Nacht überleben. Ihre Diamanten sind der Preis da für. Ich weiß, dass Sie sich darauf gefreut hatten, das Geld auszugeben, aber was ist schon Geld im Vergleich zu dreißig oder vierzig Jahren Leben? Sie haben reichlich Zeit, mehr zu verdienen. Ich nicht. Ich muss nehmen, was das Leben mir bietet.«
Tarver kam um den Schreibtisch herum und setzte sich wenige Zentimeter vor ihn. Die Mokassinschlange kämpfte darum, sich zu befreien. »Vertrauen Sie der Logik, Andrew. Ich bin viel sicherer, wenn Sie leben, als wenn Sie tot sind.«
Rusk blickte zur anderen Seite des Zimmers. Lisa lag zitternd auf dem Sofa und starrte immer noch auf die Löcher in ihrem Unterarm. Zwei dünne Fäden aus Blut und einer gelben Flüssigkeit waren bis zu ihrer Hand getröpfelt, und an der Stelle des Bisses war bereits eine Schwellung zu sehen. Während Rusk sie anstarrte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Aus dem betäubten Schock eines Unfallopfers wurde grelle Panik. Sie hob die gefesselten Hände und zerrte ihr Tank Top herunter, sodass ihre linke Brust nackt war. Dort, wo die innere Wölbung am Brustbein endete, waren zwei weitere punktförmige Wunden, zweieinhalb Zentimeter auseinander und verbunden durch eine dunkelviolette Schwellung. Lisas Augen traten hervor wie bei einer Kranken, die an Schilddrüsenüberfunktion leidet. Sie versuchte erneut auf die Füße zu kommen, doch diesmal brach sie zusammen und fiel zu Boden.
»Sind Sie bereit, mir zu verraten, wo Sie die Diamanten versteckt haben?«, fragte Tarver leise.
Rusk nickte. »Ich sage es Ihnen. Aber was ist mit Lisa?«
»Wenn ich weg bin, bringen Sie sie in die Notaufnahme. Sagen Sie, Sie hätten den Rasen gewässert. Lisa wäre nach draußen gegangen, um den Wasserhahn abzudrehen, und irgendetwas hätte sie angegriffen. Als sie wieder im Haus war, hätten Sie die Bisswunden bemerkt. Benutzen Sie Ihre Fantasie, Andrew. Hauptsache, Sie sorgen dafür, dass Lisa die gleiche Geschichte erzählt wie Sie.«
Tarver streckte die freie Hand aus und zog Rusk am Kinn zu sich, bis ihre Augen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Es ist Zeit.«
Rusk spürte beinahe körperliche Schmerzen, als er die Worte sprach. Oder es war der emotionale Schock, der Schmerz verursachte. »Unter meinem Bett«, flüsterte er. »In einem Bordkoffer, genau wie Ihrer.«
Tarver lachte auf. »Sie haben die Steine unter dem Bett aufbewahrt?«
»Ich hatte sie vergraben, genau wie Sie gesagt haben. Ich habe sie erst heute Nachmittag wieder ausgegraben.«
»Sehr klug, Andrew.«
Tarver umrundete den Schreibtisch und stopfte die zweite Mokassin zu ihrer Gefährtin in den Beutel. Dann klebte er Rusk den Mund wieder zu und verließ das Arbeitszimmer.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches erklang ein leises Wimmern. Wie er Lisa kannte, konnte er sich nicht einmal annähernd vorstellen, was in ihr vorgehen mochte – falls sie überhaupt noch bei klarem Verstand war. Er war überrascht, wie verzweifelt er sich danach sehnte, ihr zu helfen, doch seine Fesseln machten es unmöglich.
Eine knarrende Bodendiele kündete von Tarvers Rückkehr. Der Doktor grinste durch seinen Bart hindurch, als er den schweren Koffer mit einem lauten Krachen auf Rusks Schreibtisch stellte. Der Koffer war strahlend weiß und etwa doppelt so dick wie ein gewöhnlicher Aktenkoffer.
Tarver zupfte erneut ein Stück des Klebebands von Andrews Mund. »Wie viel sind sie wert, Andrew? Ich weiß, dass Sie wenigstens die Hälfte Ihres Geldes anderweitig investiert haben. Ich habe im Schlafzimmer einen Blick hineingeworfen. Ich habe die Steine auf zehn Millionen geschätzt.«
»Neun Komma sechs.«
Tarver klebte ihm den Mund wieder zu; dann nahm er
Weitere Kostenlose Bücher