Leises Gift
Alex das Ende dem Weiterleben vorgezogen hätte, hätte sie sich in der gleichen Situation wie ihre Mutter befunden.
Alex schlurfte in Krankenhauspantoffeln über den Gang und passierte die fünf Türen, die das Zimmer ihrer Mutter und das von Chris Shepard trennten. Ihr Kopf pochte und hämmerte unablässig. Die Ärzte von der Notaufnahme hatten ihr rezeptfreies Tylenol gegeben, doch es hatte die mit ihrer Gehirnerschütterung einhergehenden Kopfschmerzen nicht spürbar gelindert.
Zu ihrem Erstaunen fand sie Chris wach vor, als sie das Zimmer betrat. Sie beugte sich über sein Bett und sah, dass er weinte. Sie nahm seine Hand.
»Was ist?«
»Ich habe gerade mit Mrs. Johnson telefoniert.«
In Alex’ Magengrube regte sich Angst – die gleiche Angst, die sie spürte, wenn sie an ihren Neffen Jamie dachte.
»Ben ist furchtbar aufgeregt«, berichtete Chris. »Thora hat sich nicht bei ihm gemeldet, und an meiner Stimme hat er gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt.«
Alex legte vorsichtig die Hand auf seinen Arm. »Es gibt ein paar Dinge, die du erfahren musst.«
Ein Ausdruck des Misstrauens erschien in seinen Augen.
»Will war Ohrenzeuge, wie Thora Andrew Rusk aufgefordert hat, den Anschlag gegen dich abzublasen.«
Chris wollte sich im Bett aufrichten, doch Alex drückte ihn mit Leichtigkeit zurück. Es erschreckte sie zutiefst, dass er in so kurzer Zeit so schwach geworden war. Sie drückte seine Hand. »Es ist Zeit, sie zu verhaften, Chris.«
In seinen Augen stand Verwirrung. »Sie hat versucht, den Anschlag abzubrechen?«
»Nur weil sie wusste, dass du ihr auf die Schliche gekommen warst. Ich denke, sie muss allein um ihres eigenen Schutzes willen verhaftet werden. Sie ist eine Bedrohung für Rusk und Tarver. Die beiden könnten sie umbringen, um sie zum Schweigen zu bringen. Und nicht nur das.«
»Was noch?«
»Ich mache mir Sorgen, dass Thora in ihrem gegenwärtigen Zustand eine Gefahr für Ben darstellen könnte.«
Chris’ Augen weiteten sich. »Ich glaube nicht, dass sie ihm körperlich schaden würde.«
»Trotz des Drucks, unter dem sie steht? Sie könnte selbstmordgefährdet sein. Was, wenn sie beschließt, Ben mitzunehmen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie … verdammt, ich glaube, ich sollte überhaupt nichts mehr sagen. Ich habe mich so vollkommen in ihr getäuscht …«
»Thora ist krank, Chris. Aber das wusstest du nicht. Du konntest nicht …«
»Ich bin Arzt, Alex. Ich hätte etwas bemerken müssen. Irgendeinen Hinweis.«
»Wir alle sind blind, wenn es um Menschen geht, die wir lieben. Ich habe die gleiche Erfahrung gemacht.«
»Wer kümmert sich um Ben, wenn Thora verhaftet wird?«
»Mrs. Johnson?«, schlug Alex vor.
Chris schüttelte den Kopf. »Mir wäre lieber, wenn Tom Cage und seine Frau das übernehmen könnten. Tom weiß, was zu tun ist, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen.«
Sie nickte. »Ich rufe ihn an. Du legst dich hin und versuchst dich zu beruhigen.«
»Ich möchte nicht, dass Ben sieht, wie seine Mutter verhaftet wird.«
»Ich weiß. Ich glaube auch nicht, dass es dazu kommt. Die Alternative wäre allerdings schlimmer.«
Chris starrte mit unaussprechlicher Trauer zu ihr hinauf. Eine Traurigkeit wie diese hatte Alex bisher erst einmal gesehen, in der Nacht, als James Broadbent ihr seine Liebe gestanden hatte. Nachdem er drei Jahre lang eng mit ihr zusammengearbeitet hatte, war Broadbent überzeugt, dass sie die Liebe seines Lebens war. Er war kein naiver Junge, sondern ein hoch dekorierter Agent von vierzig Jahren mit Frau und zwei Kindern. Er hatte Alex mit schmerzerfüllter Stimme erklärt, dass er seine Familie niemals im Stich lassen würde. Andererseits konnte er nicht mehr weitermachen, ohne ihr seine Gefühle zu gestehen. Und weil er es nicht ertragen konnte, ihr so nah zu sein, ohne sie zu besitzen, hatte er vorgehabt, sich in der darauf folgenden Woche um eine Versetzung zu bemühen. Doch dazu war es nie gekommen. Zwei Tage nach seinem Geständnis war James Broadbent tot gewesen.
Alex beugte sich hinunter und legte ihre Wange neben Chris auf das Kopfkissen. »Ich weiß, dass es im Moment hoffnungslos aussieht. Aber du wirst auch wieder bessere Tage sehen. Du wirst weiterleben, und du wirst dein Leben mit Ben teilen.«
Chris hob die Hand und berührte ihr Gesicht, wobei er sorgfältig darauf achtete, die Narben zu vermeiden. »Ich sehe das nicht. Ich wünschte, ich könnte es … aber ich kann nicht.«
»Ich schon. Ich sehe es
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