Leitfaden China
bleibt aber auch der Süden Europas verglichen mit asiatischen Gesellschaften individualistisch ausgerichtet. Man kann deshalb im Modell fast von einem komplementären Verhältnis zwischen Freiheit einerseits und Geborgenheit andererseits sprechen. Der mangelnden Freiheit steht in Ostasien eine grosse Geborgenheit gegenüber, die wiederum in westlichen Gesellschaften fehlt. Westliche Gesellschaften sind dafür durch Freiräume gekennzeichnet, für die in Ostasien schlicht der Raum fehlt.
Chinesinnen und Chinesen wachsen somit in eine sozial sehr dichte Umgebung hinein. Die Freiräume sind stark beschränkt. Für einen westlichen Menschen ist vor allem die Beschränkung der Privatsphäre etwas, was sofort auffällt und gerade anfangs auch grosse Mühe macht. Eine chinesische Person wächst in dieses Umfeld hinein und ist an die vorgegebenen Muster gewöhnt. Das Modell versucht aufzuzeigen, wie sich die Verhaltens- und Denkmuster auf Grund der anderen natürlichen und sozialen Umgebung herausgebildet haben und wie sich die Unterschiede zwischen westlichen Individualgesellschaften und östlichen Kollektivgesellschaften präsentieren.
1. Unterschiedliche Verhaltensmuster
Unter den ersten Untersuchungen zum kulturell anderen räumlichen Verhalten wäre die Studie von E. T. Hall (1982, resp. 1966) zu nennen, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv mit interkulturellen Unterschieden befasst hat und ein Modell der Distanz entwickelt hat, das auch heute in der Psychologie noch gelehrt wird. Ich verwende es vor allem dort, wo es um den starken Einfluss der chinesischen Umgebung auf das Individuum geht. Die Freiräume der Person sind in China wesentlich beschränkter als in einer westlichen Gesellschaft. Erwähnenswert ist weiter die wichtige Unterscheidung zwischen Dichte (density) und Enge oder Beengung (crowding), die Stokols (1972) in die Diskussion gebracht hat. Er versieht die räumliche Wahrnehmung mit einer psychischen Komponente, welche zu einer starken persönlichen Beengung führen kann. Diese Forschungsrichtung hat sich in der Folge weiter entwickelt (siehe z. B. Desor, 1972, Altman & Chemers, 1980, Schulz-Gambard, 1985).
Das dichte Zusammenleben und die psychische Beengung, welche dadurch entsteht, haben in China dazu geführt, dass sich die Person ständig an der sozialen Umgebung orientiert und sich laufend fragt, ob sie noch in Harmonie zu dieser Umgebung steht. Ihre Antennen sind mit anderen Worten ständig auf Empfang geschaltet und versuchen herauszufinden, ob die Umgebung auch einverstanden ist mit dem, was sie tut. Denn wenn sie sich zu stark von diesem Umfeld abhebt, werden die Reaktionen kommen, die der Person klarmachen, dass die soziale Umgebung dieses oder jenes Verhalten nicht akzeptiert. Die Umgebung wird die Person zur Rechenschaft rufen und sie zwingen, sich ebenfalls wie alle anderen an die Normen zu halten. Der Einfluss der Gruppe auf die Einzelperson ist deshalb sehr stark, die Einbindung der Person in ihre Gruppe ebenfalls. Damit entsteht ein bedeutender Unterschied zwischen einer westlichen und östlichen Person. Die Unterscheidung zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe ist in der chinesischen Kollektivgesellschaft sehr viel prägnanter als in einer westlichen Individualgesellschaft und hat verschiedene Auswirkungen, welche stark in unternehmerisches Handeln hineinspielen.
Drei Kreise der sozialen Umgebung
Etwas modellhaft ausgedrückt bewegt sich eine Person in drei Kreisen. Sie ist zuerst einmal in eine Familie hineingeboren. Dann wird sie mit zunehmendem Alter in einen Kreis der Spiel- und Schulgefährten, der Studienund Arbeitskollegen und der Freunde hineinwachsen. Zu diesem zweiten Kreis gehören auch Geschäftsfreunde und Kunden oder Geschäftspartner, mit denen man immer wieder verkehrt. Ein dritter Kreis umfasst schliesslich das gesamte Umfeld, in dem sich die Person normalerweise nicht oder nur sehr beschränkt aufhält.
Die Kernfamilie
Allein in der Familie ist die asiatische Person vor ihrer sozialen Umgebung sicher. Dort kann sie so sein, wie sie will, gut gelaunt, schlecht gelaunt, es spielt keine Rolle, sie muss nur bedingt Rücksicht nehmen, da die chinesische Familie eine Schicksalsgemeinschaft bildet, aus der sie nicht herausfällt. Höflichkeiten pflegt man in der chinesischen Familie deshalb nur dann, wenn man sich wohlfühlt. Ist man schlechter Laune, darf dies auch im Verhalten weit mehr zum Ausdruck kommen als in einer westlichen Umgebung. Der Umgang in einer
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