Leitfaden China
Arbeitskreises ganz beträchtlich. Die Kurven sind in ihren Formen zwar ähnlich, in den Abszissen differieren sie jedoch je nach Kurvenbereich stark. Sie zeigen mit ihrer Form sehr schön auf, dass wir alles Menschen sind und grundsätzlich gleich funktionieren. Gleichzeitig haben sie jedoch andere Abszissen, die auf andere Prioritäten im Verhalten hinweisen. Das heisst mit anderen Worten, dass trotz dieser grundsätzlichen Ähnlichkeit Unterschiede in den verschiedenen Kulturbereichen vorhanden sind, die wir wahrnehmen und kennen müssen, wenn wir uns im anderskulturellen Umfeld erfolgreich bewegen wollen.
«When you are in Rome, do as the Romans do», sagt das bekannte englische Sprichwort. Doch dieses Verhalten ist in vielen Fällen nicht so einfach, wie es tönt. Als westliche Menschen können wir uns relativ leicht an die grössere Aufmerksamkeit in Asien gewöhnen, wenn wir uns mehr Mühe geben und mehr auf unsere Umgebung eingehen. Hingegen ist es ausgesprochen schwierig, sich im Aussenbereich der Kurve zu Verhalten zu zwingen, mit denen wir auf Grund unserer westlichen Werthaltung nicht einverstanden sind. Es geht dabei um Verhalten, das wir geradezu als «brutal» bezeichnen, das aber im asiatischen Umfeld für diesen Bereich der Kurve als durchaus angemessen gilt.
Graphik 2: Soziale Aufmerksamkeit
Als einfaches Beispiel mag eine Situation im Strassenverkehrt der Metropole Shanghai gelten, wo eine Mutter mit Kind im Mittagsverkehr auf dem Fussgängerstreifen in der Mitte einer vierspurigen Strasse steht und wartet, die letzten zwei Spuren zu überqueren. Als Europäer halte ich auf der Überholspur kommend am Fussgängerstreifen an. Doch damit schaffe ich eine ganze Reihe von Risikosituationen. Wenn ich zu schnell anhalte, riskiere ich als erstes, dass der hinter mir fahrende Chinese in mein Auto kracht. Er rechnet nicht damit, dass ich an dieser Stelle anhalte. Aber auch die Mutter mit Kind versteht nicht, warum ich stoppe. Ich schaffe eine unklare Kommunikationssituation und muss ihr aus dem Auto heraus mit Zeichen klarmachen, dass sie nun die Strasse überqueren soll. Wenn sie dies schliesslich versteht, bekommt sie ein schlechtes Gewissen, dass sie mich warten liess. Damit entsteht die dritte und gleichzeitig grösste Risikosituation. Sie wird sich nun beeilen und mit dem Kind rennend die Strasse überqueren. Wenn sie hingegen nicht aufpasst und als Chinesin nicht stark situativ reagiert, riskiert sie, auf meiner Innenspur von einem chinesischen Auto erfasst zu werden, das keinen Grund sieht, auf einen Fussgänger auf dem Zebrastreifen besondere Rücksicht zu nehmen. Der Fussgänger hat aufzupassen …
Wir kommen somit auch in Situationen, wo wir gegen die eigenen Verhaltensmuster handeln und die Mittel der anderen Kultur einsetzen müssen. Das Problem, mit dem wir dann fertig zu werden haben, besteht darin, dass wir vor unseren eigenen Wertmustern Rechenschaft ablegen, nicht vor jenen der Gastkultur. Es kann dann geschehen, dass man am Abend vor dem Spiegel steht und sich fragt, wie man sich denn heute wieder verhalten habe. Ist die Gastkultur stark verschieden, dann werden diese Verhaltensfragen relevant. Doch wir übersehen oder unterschätzen sie selbst nach langjährigem Aufenthalt immer noch. Dies kann ganz beträchtliche Probleme im Tagesgeschäft mit sich bringen und Kommunizieren und Entscheiden stark erschweren. Ein Handeln gegen die eigenen Werte kommt immer einem Biss in den sauren Apfel gleich. Wie wir später noch sehen, muss der Biss jedoch erfolgen, sonst gerät eine Führungsperson im chinesischen Umfeld in grosse Bedrängnis.
Schuld- und Schamkulturen
Diese grosse Abhängigkeit des Individuums von seiner eigenen Gruppe verlangt eine ausgesprochen hohe soziale Aufmerksamkeit dieser Gruppe gegenüber. Hier werden Verhaltensnormen wirksam, welche in einer westlichen Gesellschaft viel weniger wichtig sind. Oft will man in Europa gerade nicht zur Gruppe gehören und dokumentiert dies beispielsweise mit einer entsprechend ausgefallenen Kleidung. In Ostasien ist Nichtzugehörigkeit etwas vom Schlimmsten, was einer Person geschehen kann. Dann ist sie nämlich vogelfrei. Im Gegensatz zum Westen ist damit keine Romantik der totalen Freiheit verbunden, sondern es ist ein Zustand des totalen Ungeschütztseins, in dem die Person ihrer sozialen Umgebung völlig ausgeliefert ist, ohne auf den Schutz ihrer Eigengruppe zählen zu können.
Auf diesem unterschiedlichen Gesellschaftshintergrund
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