Leitfaden China
garantiert ist. Moral und Ethik sind in einer Kollektivgesellschaft keine absoluten Begriffe, sondern werden situativ in den Beziehungen wahrgenommen. Sind diese Beziehungen schlecht, sind die Geschäftsrisiken ausgesprochen hoch. Sind sie gut, dann ist in der Regel in Asien die Verlässlichkeit wesentlich höher als in westlichen Beziehungen, da Verpflichtungsmuster ein Merkmal dieser Netzwerke bilden. Gegenseitige Loyalitäten garantieren in diesem Fall eine viel höhere Verlässlichkeit als in einer westlichen Individualgesellschaft, in der sich die Person immer noch einen Teil des eigenen Entscheidungsfreiraums erhalten will.
Die «äussere Welt»
Im dritten Bereich, der vom amerikanischen Anthropologen F. L. K. Hsu mit «äussere Welt» (siehe Hsu 1961 oder Marsella, DeVos & Hsu, 1985) bezeichnet worden ist, wird in Ostasien hingegen keine Rücksicht geübt. Wenn im Familienbereich keine Rücksichten notwendig sind, so wird die Energie der Aufmerksamkeit in Asien durch den Arbeits- und Freundesbereich aufgefressen. Die im zweiten Bereich notwendige Aufmerksamkeit verlangt ein hohes Mass an psychischer Energie. Im Aussenbereich trägt die Person immer die Maske, mit der sie der Umgebung zu gefallen sucht. Die japanische Sprache verfügt über einige Bilder, um diesem Unterschied gerecht zu werden. «Eine Maske tragen» und «sich selbst sein», das «Vorne» und das «Hinten», sind Ausdrücke des Japanischen für diese Unterschiede zwischen Familie einerseits und direktem sozialem Umfeld andererseits. Im Familienbereich wird keine Aufmerksamkeit eingesetzt, weil sie dort nicht notwendig ist. Im dritten Bereich ist keine Aufmerksamkeit mehr vorhanden, weil sich die Person im zweiten Bereich völlig verausgabt hat und über keine psychischen Energien für die «äussere Welt» mehr verfügt. Warum sollte man sich in einem Bereich engagieren, in dem man sowieso nichts zu tun hat und der einem auch nichts bringt? Diese utilitaristische Sicht ist letztlich Konsequenz des Managements von beschränkten Energieressourcen, über die ein Mensch normalerweise verfügt. Für den Bereich der äusseren Welt ist keine Energie mehr da.
Der Bereich wird zudem als relativ irrelevant für eigenes Handeln angesehen. Das Verhalten ist deshalb ohne jegliche Rücksichtsnahme und Verpflichtung, weil dieser Bereich in einer allzu kurzfristigen Sicht als nicht lebensnotwendig angesehen wird. Umweltschutz und Tierschutz gehören beispielsweise hier hinein. Auch in einer westlichen Gesellschaft sind in diesem Bereich Anstrengungen notwendig, auch wir haben in dieser «äusseren Welt» im Umweltbereich unsere Fehler begangen und begehen sie auch weiterhin. In einer Kollektivgesellschaft wird dieser Bereich der «äusseren Welt» noch mehr vernachlässigt – zumindest so lange, als die Auswirkungen der Vernachlässigung keinen Einfluss auf die Gesellschaft haben.
Als Ausländer bewegen wir uns normalerweise in einer Gastgesellschaft in diesem Aussenbereich. Wir werden von der Gastgesellschaft als Fremde erkannt und nicht als ethnisch Zugehörige empfunden. Mit Ausländern hat eine Person aus der Gastgesellschaft in der Regel auch wenig zu schaffen. Dies bringt es mit sich, dass Ausländer in China sehr oft in einer Situation sind, wo es darum geht, Eigeninteressen zu verteidigen, weil sie von der Gastgesellschaft nicht wahrgenommen worden sind.
Ich habe unten versucht, diese drei Bereiche mit einer Graphik darzustellen, deren x-Achse die Aufteilung der Bereiche aufnimmt. In der räumlichen Aufteilung entspricht sie den Untersuchungen des amerikanischen Anthropologieprofessors F.L. K. Hsu (1961) und dem Ehepaar Lebra (1974, 1976). Ich habe Hsu’s Aufteilung dann mit einer weiteren Dimension kombiniert, die auf der y-Achse aufgezeigt ist. Sie bezeichnet das Mass an psychischer Energie, die in den drei verschiedenen Bereichen aufgewendet wird. Soziale Aufmerksamkeit ist etwas, das wir alle einsetzen. Selbst wenn wir nicht mehr möchten, machen wir manchmal Besuche bei Freunden, um die Beziehungen zu honorieren und zu pflegen. Dieses Sich-Mühe-geben bezeichne ich im Modell mit sozialer Aufmerksamkeit.
Im Modell entstehen aus der Beobachtung der sozialen Wirklichkeit in West und Ost zwei Kurven. Während die Kurve der Kollektivgesellschaft im Bereich der Familie und im Bereich der äusseren Welt tiefer liegt als jene der Individualgesellschaft, so übersteigt sie die individualgesellschaftliche Kurve im Bereich des Freundes- und
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