Lemberger Leiche
den Tisch, legte das Kinn in die Hände und blickte wieder über die Landschaft. Über die Landschaft, die ihr, der norddeutschen Flachlandpflanze, inzwischen ans Herz gewachsen war.
Mit einer vagen Kopfbewegung zum westlichen Horizont fragte sie Helene, was das für eine weiße Kuppel sei, die aus dem Wald herausragte.
Helenes Stiefmütterchengesicht, das heute voll aufgeblüht war, welkte ein wenig, und sie schüttelte ungläubig ihr weißgelocktes Haupt. »Also, Kind, nun bist du über ein Jahr in Stuttgart und warst noch nicht auf Schloss Solitude?«
»Ich hatte leider wenig Freizeit in eurer mörderischen Landeshauptstadt«, sagte Irma. »Hier wird anscheinend bevorzugt an Wochenenden gemordet, da muss ich statt barocken Lustschlössern eben die Leichen besichtigen.« Irma hielt erschrocken inne, weil ihr einfiel, dass die erste Leiche, die sie in Stuttgart gesehen hatte, Helenes Sohn gewesen war.
Aber Helene Ranberg schien nicht daran zu denken, sondern erklärte weiterhin die Gegend. Wobei sie in eine Stimmung verfiel, die Irma kannte und als Lyrik-Anfälle bezeichnete.
Nach kurzem Nachdenken legte Helene los:
»
In Erbsensuppe ruht die Welt
,
es träumen Wald und Wiesen
.
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt
,
den blauen Himmel unverstellt
in warmem Golde fließen
.«
»He«, sagte Irma. »Da hast du wieder geschummelt. Mir scheint, dieses Gedicht stammt nicht von dir.«
»Na ja«, sagte Helene, ohne verlegen zu sein. »Die Originalfassung ist von Mörike. Es ist zwar mit
Septembermorgen
überschrieben, aber es passt doch trotzdem! Oder?«
»Mörike wird sich im Grab umdrehen, wenn du seine Gedichte verhunzt.«
Helene machte ihr schlaues Gesicht: aufgerissene erstaunte Augen und gespitzte Lippen. »Zugegeben, das mit der Erbsensuppe ist nicht sehr lyrisch, aber die hast du mir ja in den Mund gelegt.« Bevor Irma etwas erwidern konnte, wandte sich Helene wieder der Landschaft zu. »Sieh mal, Irma, wie sich Alt-Feuerbach in die Falten der Täler schmiegt, und wie die Häuser an den grünen Hängen hinaufklettern.«
»Bis in die gepriesene Halbhöhenlage«, ergänzte Irma.
Helene zeigte in die Ferne: »Der Buckel links vom Fernsehturm ist der Kappelberg. Übrigens auch ein hervorragendes Weinanbaugebiet wie der Lemberg, auf dem wir gerade sitzen. Hinter Fellbach …«
Irma seufzte. »Du meine Güte, Helene, du ersetzt heute voll und ganz meinen Boss. Bei jeder Gelegenheit hält er mir Vorträge über sein teures Schwabenland und hängt den Heimatkundler raus.«
Dass Irma sie mit Hauptkommissar Peter Schmoll verglich, schmeichelte Helene. Seit sie sich bei einem Mordfall als Miss Marple bewährt hatte und Schmoll sie deswegen ein Käpsele genannt hatte, zeigte sie eine Schwäche für den schwäbischen Vollblutermittler. Sie mochte diesen Kleiderschrank von einem Mann auch deswegen, weil er ihr schonzwei Mal in misslichen Situationen seinen geräumigen Brustkasten zur Verfügung gestellt hatte, um sich daran auszuweinen.
Auch Irma schätzte nach Anfangsschwierigkeiten, die durch den Dialekt und die schwäbische Mentalität entstanden waren, ihren Chef hoch ein – und er selbst gab inzwischen zu, dass Irma sich durch ihre unkonventionellen Ermittlungsmethoden schon einige Lorbeeren im Stuttgarter Morddezernat verdient hatte. Schmoll war fünfzig, exakt zweiundzwanzig Jahre älter als Irma und zweiundzwanzig Jahre jünger als Helene Ranberg. Es sprach für Schmoll, dass zwei nette Frauen gleichzeitig an ihn dachten und dabei verträumt ins Tal blickten.
Sie wurden aus ihren Träumereien gerissen, weil Tumult entstand, da die Halbzeitpause zu Ende war. Die meisten Gäste drängten zu der zur WM-Lounge umgebauten Weinlaube. Obwohl Irma sich nur begrenzt für Fußball interessierte, ließ sie sich von der Gewinnerstimmung und Deutschlandseligkeit anstecken. Jeder schien sich auf dem Weg zum Weltmeister zu fühlen. Nur Helene hielt sich wegen der lautstarken Begeisterung die Ohren zu, starrte missmutig in die Gegend und schwieg beharrlich mit beleidigter Miene.
Als Irma fand, nun genügend lange geschwiegen zu haben, fragte sie Helene, ob sie was von Line gehört habe.
Helene wusste immer bestens Bescheid, wie es Line ging, weil die beiden viel Zeit miteinander verbrachten. Das lag nicht nur daran, dass Helene das elternlose Mädchen finanziell unterstützte, damit es eine Lehre machen konnte, sondern weil sie sich gern hatten.
»Line hat angerufen«, sagte Helene. »Sie ist gut in Palma
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