Lemberger Leiche
alles, was ihr zwischen die Zähne kam, mit Bedacht und Genuss. Ihr sonst verkniffenes Gesicht entspannte sich und fabrizierte ein selbstvergessenes Lächeln, das exakt so lange anhielt, wie sie kaute und schluckte.
In der Schule galt sie als Außenseiterin, was weniger an ihrer unvorteilhaften Außenfassade gelegen haben mochte, sondern an der Art und Weise, wie sie auf ihre Mitschüler und Lehrer zuging, beziehungsweise nicht zuging. Alles, was Brünnhilde sagte, klang abweisend und mürrisch.
Als sie mit zehn Jahren zu wachsen begann und nicht mehr damit aufhörte, bis sie mit fünfzehn eine Länge von eins sechsundachtzig erreicht hatte, änderte sich nichts in ihrem Verhalten, außer dass sie die Leute nun verdrossen von oben statt von unten musterte.
Nach einem mittelmäßigen Abitur begann sie eine Lehre in einer Bankfiliale. Nicht weil sie sich besonders für Geldangelegenheiten interessierte, sondern weil es ihr völlig egal war, in welchem Beruf sie ihr Leben verbringen würde. Ihre Mutter hoffte, das träge Mädchen würde durch eine geregelte Arbeit endlich erwachsen und selbständig werden und ihr nicht mehr auf der Tasche liegen und auf den Nerven rumtrampeln.
Während ihrer Lehrzeit wurde Brünnhilde von einem Chef betreut, der das Wunder vollbrachte, aus ihr eine freundliche, zuvorkommende Bankangestellte zu machen. Die sonst Widerborstige folgte den Anweisungen dieses kleinen, untersetzten Mannes freiwillig, und wie es schien,sogar freudig. Die Kollegen und Kunden hatten ein wohlwollendes Lächeln für dieses ungleiche Gespann. Wer beide näher kannte, führte die gegenseitige Sympathie auf ihre einzige Gemeinsamkeit zurück: ihre Leidenschaft fürs Essen. Während Brünnhilde durch die einträchtigen Fressorgien kein Gramm zunahm, ging Herr Betz zunehmend in die Breite. Weil er durch sein Übergewicht unter Atemnot und Herzbeschwerden litt, überließ er Brünnhilde nach und nach immer mehr von seinen Aufgaben.
Als Brünnhilde Herrn Betz tot im Tresorraum fand, wo ihn der Schlag getroffen hatte, war er kurz vor der Pensionierung und sie fünfunddreißig Jahre alt. Seit gestern war sie vierzig, ein tüchtiges Mitglied der Gesellschaft, insgesamt seit zwanzig Jahren in dieser Bank im Zentrum Feuerbachs beschäftigt, seit fünf Jahren als Filialleiterin.
An diesem Montagmorgen schloss Filialleiterin Brünnhilde Kurtz die Eingangstür der Bank noch früher als gewöhnlich auf und betrat wie immer als Erste die Bank. Allerdings schien sie heute auf Wolken zu schweben. Sie summte vor sich hin und bewegte selbstherrlich, aber anmutig die Arme, als ob sie ein Orchester dirigieren würde. Sie tänzelte. Sie lächelte. Wenn jemand sie hätte sehen können, wäre er zu dem Schluss gekommen, Brünnhilde sei verliebt.
Obwohl sie noch einiges tun wollte, bevor die Bank für die Kunden geöffnet wurde, blieb sie vor dem Garderobenspiegel stehen. Sie musste leicht in die Knie gehen, damit ihr Gesicht unter dem oberen Rahmen auftauchte.
Ihre schlanken, aber kräftigen Finger tasteten über eine Frisur, die noch schlichter war als die, die sie als Kind getragen hatte. Die Mutter hatte Brünnhildes dichtes, festes Haar alle vier Wochen akkurat auf Kinnlänge gestutzt. Seit es die Mutter nicht mehr gab, ließ Brünnhilde ihre Haare wachsen und trug sie als perfekt gedrehten Dutt im Nacken.
Trist wie ihre Frisur war auch ihre Kleidung. Beigetöne in allen Nuancen, wie sie ältere Damen bevorzugen. Selbstverständlich flache Schuhe, um nicht noch einige Zentimetergrößer zu sein. Ihre Kolleginnen hatten längst aufgegeben, ihr zu empfehlen, sie solle es bei ihrer wohlproportionierten Figur doch mal mit modischer Kleidung versuchen.
Brünnhilde Kurtz blickte selten freiwillig in einen Spiegel, wie jetzt im Flur der Bank. Was sie sah, war ein ovales Gesicht ohne Make-up, aber trotz vierzig Jahren faltenfrei. Blaue Augen mit dichten hellen Wimpern. Klassisch gerade Nase und ein Mund, dessen Winkel heute ausnahmsweise nicht nach unten zeigten. Dieses Gesicht rundete ein erstaunlich weiches Kinn ab.
An Brünnhildes Lebenswandel, wie er sich nach außen darstellte, hätte niemand etwas Außergewöhnliches feststellen können. Doch sie hütete persönliche Geheimnisse. Nach dem Tod von Herrn Betz hatte sie in einem Fitnessstudio begonnen, sich Grundkenntnisse im Boxsport anzueignen. Inzwischen hatte sie das Training in ihr Wohnzimmer verlegt, hauptsächlich deswegen, weil sie dort zusätzlich Musik hören konnte.
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