Lemmings Zorn
halb sieben in der Früh und endet – mit einigen wenigen Pausen – um zehn, halb elf am Abend! Am Vormittag, während er weg ist, da jault und bellt nur sein Hund! Da kann man sogar manchmal Musik hören – mit Kopfhörern!» Jandulas Schädel schlingert nun so heftig hin und her, dass sein grauer Haarschopf durch die Luft weht wie das Baströckchen einer Hulatänzerin.
«Und die Polizei? Kann die da nichts machen?»
«Dass ich nicht lache! Zweimal hab ich die gerufen, nämlichdas erste und das letzte Mal! Die haben kurz mit dem Prantzl geplaudert, dann haben sie mir nahegelegt, tagsüber spazieren zu gehen oder die Wohnung zu wechseln! Und der Prantzl hat mich zwei Stunden später im Haustor abgepasst! Mit dem Hund! Sie können sich vorstellen!»
«Und wenn Sie … Wenn Sie wirklich eine andere Wohnung nehmen?»
Jandulas Antwort kommt lautlos; sie beschränkt sich auf eine wohl weltweit gebräuchliche Geste. Er dreht dem Lemming den Handrücken zu und reibt Daumen, Zeige- und Mittelfinger aneinander: das liebe Geld, natürlich. Vorbei sind die Zeiten, da man in Wien noch umziehen konnte, ohne sich ausziehen zu lassen – nämlich das letzte Hemd.
«Wenn Sie Journalist sind», ruft Jandula jetzt, «dann sollten sie darüber auch einmal schreiben! Und nicht immer nur über Raubüberfälle und Attentate! Verstehen Sie? Der wahre Terror wird nicht mit der Waffe ausgeübt! Der findet hier statt, Tag für Tag! Aber …» Jandula macht eine wegwerfende Handbewegung; der Rest seines Satzes wird von den donnernden Pulsionen des Plafonds verschluckt.
«Was haben Sie gesagt?», setzt der Lemming nach. «Das Letzte hab ich nicht verstanden!»
«Dass ein Terror ohne Blutvergießen für Ihr Blatt natürlich nicht reißerisch genug ist! Vor allem, wo doch auch die Alltagsterroristen selbst zu Ihren Abonnenten zählen!»
Der Lemming starrt Jandula an, senkt dann betreten den Kopf, markiert Verlegenheit. «Sie haben schon recht!», ruft er nach einer Weile. «Nur … Das ließe sich doch ändern! Ich könnte ja vielleicht … Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr Jandula! Sie helfen mir, und ich helfe Ihnen! Was halten Sie davon?»
Jandula schüttelt den Kopf. «Ist gut!», gibt er zurück. «Unter einer Bedingung: Was ich Ihnen auch erzähle, lassen Sie bitte meinen Namen aus dem Spiel!»
«Das versteht sich von selbst!»
Eine Viertelstunde später ist der Lemming in die jüngere Lebens- und Leidensgeschichte seines Gastgebers eingeweiht. Professor Doktor Klaus Jandula, seines Zeichens Musikwissenschaftler, hat zwanzig Jahre lang an der Universität gelehrt (wobei die Titel seiner Vorlesungen dem Lemming keine zwingenden Aha-Erlebnisse bereiten:
Systematik der mediävalen Mensuralpaläographie
beispielsweise, oder
Aleatorische Tendenzen des fugalen Kontrapunkts
). Seine Wohnung, in der er seit einem Vierteljahrhundert lebt, ist immer ein Hort des Friedens für ihn gewesen, ein Ort der Stille, der Kontemplation und des Nachdenkens. Vor zweieinhalb Jahren aber ist Herbert Prantzl hier eingezogen, und vor einem musste Jandula seinen Lehrauftrag zurücklegen. Zermürbt vom Sparring des sportiven Nachbarn war er in seinem eigenen Unterricht eingeschlafen und hatte einer jungen Studentin, die ihn zu wecken versuchte, jählings ins Gesicht geschlagen – freilich ohne noch recht bei Sinnen zu sein. Ein halbherziger Versuch, die Angelegenheit intern zu regeln, fruchtete nichts; Jandula wurde gezwungen, den Hut zu nehmen. Dass sein zerrüttetes Nervenkostüm bald völlig aus den Nähten platzte, versteht sich von selbst. Sein Kopf fing an, sich selbständig zu machen, und nur die Chemie konnte noch Schlimmeres verhindern: Durch die ärztliche Verschreibung eines befreundeten Neurologen sediert, schaffte es Jandula, den Rest seines Körpers unter Kontrolle zu halten. Und das tut er bis heute – vorausgesetzt, er vergisst seine Pillen nicht.
«Ich habe wenigstens nur meinen Kopf verloren!», ruft er jetzt. «Meinen Kopf und meine Arbeit!»
Und deinen Lebensmut, denkt der Lemming im Stillen.
«Kann ich mich auf Sie verlassen? Werden Sie darüber berichten?»
Der Lemming zögert. Das schlechte Gewissen für seinen Schwindel und Jandulas damit verbundene Hoffnung stehtihm nun deutlich ins Gesicht geschrieben. «Ich … Ich will natürlich nichts versprechen!», gibt er zurück. «Die Entscheidungen trifft ja der Chefredakteur! Aber trotzdem: Wenn ich etwas für Sie tun kann, werd ich es auch tun!»
«In
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