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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Ordnung!» Jandula dürfte wohl nicht zu jenen gehören, die im Gesicht des Lemming zu lesen vermögen. «Dann sind jetzt Sie an der Reihe! Was wollen Sie wissen?»
    «Dieser Überfall auf   … auf den Prantzl, das Mistvieh! Haben Sie damals etwas mitbekommen?»
    Jandula schüttelt den Kopf, und diesmal lässt er keine bejahenden Worte folgen. «Warum interessiert Sie das überhaupt noch? Ist das nicht längst passé für die Medien?», fragt er leise.
    Ja, leise. Und trotzdem verständlich.
    Mit einem Mal nämlich hat der Radau im dritten Stock ein Ende gefunden. Wie wärmende Sonnenstrahlen nach einem Wolkenbruch breitet sich Ruhe aus, Entspannung. Erst jetzt merkt der Lemming, wie eng sich das Korsett der latenten Bedrohung um seine Brust geschnürt hat. Man ist und bleibt nun einmal Tier: Das Kreischen aufstiebender Vögel, das Stampfen entfesselter Nashornhorden, das Grollen eines nahenden Gewitters, die schrillen Alarmrufe der eigenen Herdengenossen, all das bedeutet noch immer Gefahr für den Menschen, da mag er Astronaut, Informatiker oder Quantenphysiker sein.
    «Endlich vorbei.» Der Lemming spitzt die Lippen und stößt befreit die Luft aus seinen Lungen – eine Geste, die Jandula mit müdem Lächeln quittiert.
    «Nichts ist vorbei», sagt er. «Fünf Minuten Pause, längstens zehn. Dehnen und Strecken, vielleicht ein kleiner anabolischer Muntermacher, dann wird wieder weitertrainiert. Also nutzen wir die Zeit. Wieso beschäftigen Sie sich – nach mehr als drei Monaten – noch immer mit diesem Überfall ?»
    «Ja weil   … Also weil   …» Immer höher und fragiler droht nun das Lügengebäude des Lemming zu werden, wie ein von Kinderhand erbauter Spielzeugturm schwankt es gefährlich hin und her. «Glauben Sie, dass uns der Prantzl da oben belauscht?», flüstert er also, um Zeit zu gewinnen.
    «Wozu soll einer lauschen, wenn er sowieso nicht zuhören kann?», erwidert Jandula. «Sie dürfen nicht bös sein, Herr Wallisch, dass ich Sie nach Ihren Gründen frage. Aber ein bisserl seltsam mutet das schon an, wenn ein Reporter am Christtag herumläuft, um kalten Kaffee aufzuwärmen. Noch dazu mit seinem Baby   …»
    «Mein Gott! Benjamin!»
    Der Kleine ist dem Lemming völlig aus den Augen und dem Sinn entschwunden; im Laufe der letzten Viertelstunde hat er ja auch keinen (wenigstens keinen
vernehmbaren
) Laut von sich gegeben, um seine Anwesenheit in das von Erschöpfung und Stress überlastete Hirn seines Vaters zu reklamieren. Halb erschrocken über die eigene Nachlässigkeit, halb dankbar für eine weitere Gnadenfrist springt der Lemming jetzt auf und macht sich auf die Suche.
    Hinter einem der beiden Fauteuils, in der hintersten Ecke des Raums sitzt Ben auf dem Boden, umgeben von verstaubten Büchern und Alben, angegilbten Postkarten und Briefkuverts. Genüsslich kaut er an einer Handvoll zerknitterter Fotografien, so tief versunken in seine Mahlzeit, dass er den Lemming erst gar nicht bemerkt.
    «Ach du Scheiße! Ich fürchte, Herr Jandula, mein Sohn verspeist gerade Ihre Vergangenheit.» Der Lemming geht auf die Knie, um Ben die Fotos sacht zu entwinden, als sein Blick auf den obersten Abzug fällt.
    Eine venetianerrote Wand, auf der – nur unscharf zu erkennen – eine Reihe moderner Gemälde hängt. Im Vordergrund, mit Flaschen, Gläsern und Aschenbechern dicht bedeckt, ein Tisch. An diesem Tisch sitzen fünf Personen, alle dem Betrachterzugewandt: In der Mitte ein alter, faltiger Mann mit dichten weißen Haaren – er ist der Einzige, der freundlich in die Kamera lächelt. Links daneben Klaus Jandula. Die Konturen seines Kopfes sind ein wenig verwischt – zu lang war wohl die Belichtungszeit, um seinen Tremor zu überlisten. Rechts neben dem Alten sitzt eine schmächtige, etwa fünfzigjährige Frau mit verhärmtem Gesichtsausdruck. Noch weiter rechts dürfte sich ein dritter Mann befunden haben: Der Aufschlag eines dunklen Sakkos ist zu erkennen, dazu ein Arm, der ins Bild ragt. Am Revers der Jacke ist die Aufnahme allerdings ausgefranst und abgenagt – es scheint, dass der Großteil des Mannes in Benjamins Magen gelandet ist. Ganz links aber, neben Klaus Jandula, blickt dem Lemming mit ernster Miene eine weitere Frau entgegen.
    Es ist Angela Lehner.
    Während der Lemming noch fassungslos auf das Foto starrt, beginnt die Decke aufs Neue unter dumpfen Donnerschlägen zu erbeben: Prantzl hat sein unterbrochenes Training wiederaufgenommen.
    «Sehen Sie?», ruft Jandula. «Was hab ich

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