Lemmings Zorn
Nachtwächter, also vom Fach … Haben Sie vielleicht etwas damit zu tun, Herr Prantzl?
Letztlich entschließt sich der Lemming, der
Reinen Wahrheit
den Vorzug zu geben – und damit der größten nur möglichen Lüge. Immerhin hat diese Strategie schon des Öfteren Früchte getragen, damals, beim Mord an dem alten Lateinlehrer Grinzinger etwa, und ein Jahr darauf, als es galt, den Fall Buchwieser aufzuklären.
«Es ist nämlich so, Herr Prantzl, dass ich Reporter bin. Dieser Zeitungsbericht in der
Reinen
damals, Sie werden ihn vielleichtgelesen haben … Also, den hab ich geschrieben. Und jetzt wollt ich halt wissen …»
Eine leichte Veränderung in Herbert Prantzls Mimik lässt den Lemming verstummen. Nicht mehr nur mürrisch, nein, geradezu hasserfüllt sieht ihn der kleine Mann jetzt an.
«Das da», sagt Prantzl und deutet auf Ben, «wie heißt das?»
Der Lemming versteht nicht sofort.
«Na, das Bankert! Wie nennen S’ das?»
«Meinen Sohn? Benjamin. Wieso …»
«Pennermann, aha.»
«Nein, Benja …»
«Pennermann, sag ich ja! Und jetzt», die Augen Prantzls verengen sich zu schmalen Schlitzen, «jetzt sagen Sie mir, wie mein Hund heißt.»
«Ihr Hund? Na, soviel ich weiß … Mambo.»
Erstmals huscht jetzt ein Lächeln über Prantzls Gesicht. Er winkelt die Ellenbogen an und schlägt zwei-, dreimal die Boxhandschuhe gegeneinander. «Falsche Antwort», schnurrt er, «ganz falsche Antwort. Aber das sagt er Ihnen am besten gleich selber.» Das Grinsen erstirbt. Stattdessen schiebt Prantzl nun den Unterkiefer vor und lässt einen kurzen, gellenden Pfiff erschallen. Aus dem Dunkel der Wohnung löst sich ein Schatten und nähert sich pfeilschnell der Eingangstür.
«Steh, Rambo», sagt Prantzl, ohne den Blick vom Lemming zu wenden, und fügt fast freundlich hinzu: «Zehn Sekunden, Herr Reporter. Ab … jetzt.»
Entgeistert starrt der Lemming auf den braunen Hund, der nun neben Prantzl steht wie eine Kopie seines eigenen Herrchens: stramm und gedrungen, ein hechelnder, geifernder Pitbull.
«Noch fünf», sagt Prantzl ruhig.
Der Lemming läuft los.
Er springt und stolpert die Treppe hinunter, touchiert den eisernen Handlauf, prallt zurück, hastet weiter. Benjaminquietscht vor Vergnügen. Doch ehe die beiden den zweiten Stock erreicht haben, tönt Herbert Prantzls Stimme noch einmal durch das Stiegenhaus: «Fass, Rambo!», hallt es gespenstisch von den Mauern wider.
Und schon braust ein Luftzug über den steinernen Boden, ein giftiger Windhauch aus ranzigem Schweißdunst und fauligem Killerhundbrodem.
10
«Rasch! Da hinein!»
Eine Hand greift nach dem Arm des Lemming, zerrt ihn mit aller Kraft zur Seite. Eine Tür fällt ins Schloss, gerade noch rechtzeitig: Das Türblatt erzittert unter einem dumpfen Stoß, dann wird ein wütendes Knurren und Belfern laut, gefolgt vom Kratzen scharfer Krallen an den hölzernen Kassetten.
«Leise … Ganz leise müssen S’ sein …»
Ein weiterer Stoß, ein letztes, zögerliches Schaben, und es wird still vor der Tür. Die Hand zieht den Lemming weiter, schiebt ihn aus dem dunklen Vorraum in ein nur wenig helleres Wohnzimmer.
«Na, kommen Sie, setzen Sie sich, Sie sind ja ganz blass.»
Blass ist noch krass untertrieben. Grau ist der Lemming, so grau wie ein rußverkrusteter Schneemann in einem städtischen Beserlpark. Mit weichen Knien lässt er sich auf einen gemusterten Diwan sinken, während ein unbezähmbares Zittern seinen Körper durchläuft. «Ist ja gut, mein Schatz, ist ja gut. Es ist ja nichts passiert», raunt er Ben ins Ohr: beruhigende Worte, weniger für den Kleinen als für ihn selbst bestimmt. Benjamin ist ohnehin guter Dinge; interessiert dreht er den Kopf nach links und rechts, lässt seinen Blick schweifen, betrachtet die Farben und Formen all der unbekannten Gegenstände, die den Raum bevölkern.
Gründerzeit, Schnitzler und Freud, das sind die ersten Gedanken des Lemming, als auch er sich – nach ein paar tiefen, die Herzfrequenz drosselnden Atemzügen – im Zimmer umsieht. Dicke, schon reichlich zerschlissene Perserteppiche bedecken den gesamten Boden, ein angestaubter Konzertflügel hat sich vor den schweren dunkelroten Vorhängen breitgemacht. Die Wände sind mit dichtbefüllten Bücherregalen verbaut, auch auf zwei samtbespannten Fauteuils, die – nur durch eine Stehlampe voneinander getrennt – in der gegenüberliegenden Ecke des Raums stehen, stapeln sich Dutzende Bücher. Den einzigen Anachronismus
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