Lemmings Zorn
Butzerl aufpassen.»
«Geht schon», gibt der Lemming zurück. «Danke trotzdem.»
Er parkt den Kinderwagen neben dem Treppenabsatz, hebt Ben heraus und macht sich an den Aufstieg.
Schon im ersten Stock kann er es hören: ein regelmäßiges Stampfen, das durch die halbdunklen Gänge hallt. Obwohl es nur gedämpft an seine Ohren dringt, scheint doch das ganze Haus darunter zu erbeben – es ist eines jener Geräusche, die man mehr im Zwerchfell als im Trommelfell verspürt. In der zweiten Etage gesellen sich hellere, schärfere Schläge dazu, von denen die dumpfen Stöße kontrapunktiert werden. Im dritten Geschoss schließlich lässt sich ein rhythmisches Keuchen und Schnauben vernehmen, untermalt von schrillen, metallischen Quietsch- und kurzen, fast tierischen Grunztönen.
Erst vor Herbert Prantzls Wohnungstür wird dem Lemming bewusst, wo dieses wüste akustische Quodlibet seinen Ausgang nimmt: in Herbert Prantzls Wohnung nämlich. Grund genug, mit dem Klingeln zu warten. Immerhin ist heute ein Feiertag: ein Tag, an dem es der Anstand gebietet, seine Mitmenschen fertig feiern zu lassen, wie auch immer sie das Christfest zelebrieren mögen …
In der folgenden Viertelstunde durchläuft der Lemming eine Palette unterschiedlichster Gefühle: Während er Ben mit Grimassen und Liedern bei Laune zu halten versucht, wechseltseine eigene von anfänglichem Amusement zu wachsendem Respekt, von staunender Ehrfurcht zu Ungläubigkeit und schließlich zu Verärgerung. Nach zwanzig langen und lauten Minuten ist seine Geduld erschöpft: Er drückt auf den Klingelknopf. Im selben Moment schlägt – kurz, scharf und wütend – ein Hund an, das Grunzen erstirbt. Sekunden später nähern sich Schritte, wird von innen an der Tür hantiert: Immer wieder schlägt sie gegen den Rahmen, so, als glitten ungeschickte Finger an der Schnalle ab. Erst nach mehreren Versuchen wird sie – unerwartet schwungvoll – aufgerissen.
«Was is?»
Eine Dampfwolke beißenden, sauren Schweißgeruchs wallt dem Lemming entgegen. Unwillkürlich weicht er zurück und hält seine schützende Hand vor Bens Gesicht. Inmitten der Schweißwolke aber steht Prantzl, der Briefträger, Prantzl, der Sportsmann.
Klein und stämmig ist dieses halbnackte, glänzende Muskelpaket, fleischig und breit seine vollkommen haarlose Brust. Nur wenige aschblonde Strähnen hängen dem Mann in die regelrecht paläolithisch niedrige Stirn, die ebenso gerötet ist wie seine Backen, seine Nase und sein kurzer Hals. Die einzigen Kleidungsstücke, die Prantzl trägt, sind knallrote Boxershorts und – farblich perfekt darauf abgestimmt – ein Paar gigantische Boxhandschuhe.
«Was is?», fragt Prantzl jetzt noch einmal. «Was wollen S’ denn?»
«Verzeihen Sie die Störung, Herr Prantzl … Sie sind doch der Herr Prantzl?»
Die Augen des bulligen Kampfzwergs verengen sich. «Wer will das wissen?», fragt er mit drohendem Unterton.
«Wallisch mein Name. Leopold Wallisch. Ich komm nämlich wegen dem … wegen der Sache vor drei Monaten zu Ihnen. Sie wissen schon, der Anschlag, dieser … muslimische Anschlag auf Sie.»
«Aha?» Prantzl betrachtet gelangweilt seinen rechten Boxhandschuh, spuckt dann darauf und wischt ihn an der Unterhose trocken. «Und weiter?»
«Nun … Ich wollte Sie fragen, ob es da inzwischen etwas Neues gibt. Ob man den Täter vielleicht schon gefasst hat.» Herbert Prantzl starrt den Lemming an. «Schön langsam», meint er dann, «tun Sie mich ein bisserl langweilen. Und ich fadisier mich net gern: Das geht mir fast so auf die Eier, wie wenn ich mich ständig wiederholen muss. Also zum letzten Mal: Wer will das wissen? Und warum?»
Nicht, dass sich der Lemming die möglichen Antworten auf diese Frage nicht schon vorher überlegt hätte. Allerdings hat er darauf gehofft, sich jegliche dieser Erklärungen sparen zu können, denn keine davon ist ihm glaubhaft erschienen:
Ich bin Kriminalbeamter
? Ein Polizist, der sich am Christtag – noch dazu mit einem Baby auf dem Arm – nach einer wahrscheinlich schon lang zu den Akten gelegten Straftat erkundigt ? Um Prantzl mit dieser Version zu überzeugen, hätte dessen Stirn noch um einiges niedriger sein müssen.
Oder vielleicht gar die Wahrheit?
Ich habe Ihren Namen in einem Zeitungsartikel gefunden, der unter dem Bett einer Freundin lag, die gestern Nacht das Zeitliche gesegnet hat. Die Polizei tippt auf Selbstmord, aber ich glaube, dass sie ermordet wurde. Immerhin bin ich
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