Lemmings Zorn
gesagt?» Er ist inzwischen neben den Lehnstuhl getreten und breitet stolz, ja beinahe erleichtert die Arme aus, als wäre er ein Lungenkranker, der dem Arzt seinen Husten präsentiert.
«Ja», murmelt der Lemming. «Sie haben recht gehabt.» Er fasst Benjamin unter den Achseln und richtet sich auf.
«Bitte? Was sagen Sie?»
«Nichts … Hören Sie, Herr Jandula! Das mit Ihren … Ihren Andenken tut mir leid!» Der Lemming deutet auf die angenagten Fotos, die nun verstreut auf dem Boden liegen.
Das Bild mit dem roten Engel ist nicht mehr dabei.
«Halb so schlimm!», winkt Jandula ab. «Die schönsten Erinnerungen lassen sich ohnehin nicht ablichten! Stille zum Beispiel! Oder Träume! Wollen Sie noch einen Kaffee, Herr Wallisch?»
«Danke, nein! Ein andermal gerne! Aber jetzt braucht der Kleine, glaub ich, eine ordentliche Mahlzeit!»
«Und was ist mit Ihren Fragen? Sie haben ja noch gar nicht …»
«Ich komme wieder, wenn ich darf! Am liebsten werktags zwischen acht und zwölf!»
Jandula lacht auf. Die horizontalen Schlenker seines Kopfes gehen jetzt in ruckartige Kreisbewegungen über. So, denkt der Lemming, sieht es also aus, wenn Klaus Jandula nickt.
Aufatmen, durchatmen. Nur noch leise dringen die rhythmischen Schläge an die Ohren des Lemming, als er den ersten Stock passiert – leise und zugleich beruhigend: Solange Prantzl turnt, kann er die Tür nicht öffnen. Und solange er die Tür nicht öffnet, bleibt Rambo, die Bestie, unter Verschluss. Rasch und möglichst lautlos huscht der Lemming die Treppe hinab. Fast ist er schon im Erdgeschoss, als plötzlich Trompetenfanfaren aus seiner Hose erschallen. Ben, der gerade dabei war, die Augen zu schließen, horcht auf; der Lemming bleibt stehen, hält den Kleinen mit der rechten Hand an sich gedrückt und stochert mit der linken sein Handy aus der Tasche.
«Ich bin’s», sagt Klara am anderen Ende der Leitung. «Seid ihr noch unterwegs?»
«Sind wir, ja. Und du?»
«Am Heimweg. Vor der U-Bahn -Station.»
«Und? Hast du was ausrichten können am Bruckhaufen?» Kurzes, trauriges Schweigen. «Irgendwie schon», sagt Klara dann. «Trotzdem hätt ich nicht hinfahren sollen, es war nämlich … Es war grauenhaft, wie du gesagt hast. Angelas Mutter hat mir aufgemacht, und ich hab ihr mein Märchen aufgetischt, du weißt schon, alte Freundin und so weiter. Also hat sie uns reingelassen, den Castro und mich. Im Wohnzimmer ist dann der alte Smejkal gesessen, im Finstern. Ich hab zuerstgeglaubt, er schläft, aber er hat nicht geschlafen. Er ist nur dagesessen und hat vor sich hin gestarrt und hat kein Wort gesagt, die ganze Zeit nicht ein einziges Wort. Ich glaub, der hat mich gar nicht registriert. Nur die Mutter … Sie hat das Licht aufgedreht und geweint und … und …» Klara scheint nun selbst mit den Tränen zu kämpfen; es macht ihr eindeutig Mühe, weiterzusprechen. «Herumgestammelt hat sie, völlig unverständlich, völlig hilflos, du hast es ja erlebt … Und dann, wie sie gemerkt hat, dass ich nichts von dem versteh, was sie sagt, da hat sie … hat sie ein Foto aus einer Lade gezogen. Auf dem Foto ist Angela mit ihrem kleinen Buben – mein Gott, so ein süßer kleiner Knirps … Der Bub jedenfalls hat ein Leiberl an, du weißt schon, so wie der Ben auch eines hat, mit seinem Namen auf der Brust …»
«Ja und?», fragt der Lemming. Er spürt, wie sich sein Magen neuerlich zusammenkrampft.
«So wie der Ben auch eines hat», sagt Klara noch einmal. «
Ben
steht auf dem Leiberl, verstehst du?
Ben!
Der Bub von der Angela hat Benjamin Lehner geheißen.»
11
«Ich will nur noch eines: Ihn sterben sehen. Ich muss ihn nicht unbedingt selbst töten, nein, ich will nur dabei sein. Dabei sein und zusehen, wenn dieses Stück Dreck, diese Ratte, krepiert!»
«Nicht aufregen, bleiben Sie ruhig. Wahrscheinlich ist es besser, Sie erzählen der Reihe nach. Seit wann sind Sie denn überhaupt in Wien?»
«Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr. Im Herbst neunzehnvierundachtzig bin ich gekommen, direkt aus Hamburg. Man kriegt ja solche Dinge hier nicht mit, aber damals hat sich im Hamburger Hafen das schwerste Schiffsunglück der Nachkriegszeit ereignet. Eine Barkasse, die für ein Geburtstagsfestgemietet war, ist mit einem Schlepper zusammengestoßen. Neunzehn Tote, alle ertrunken. Meine Mutter war eine davon.»
«Ihre … Das tut mir leid.»
«Stört es Sie, wenn ich
hier
rauche?»
«Nein, überhaupt nicht – wenn
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