Lemmings Zorn
Sie mir auch eine geben. Danke. Und warum gerade Wien?»
«Weil mein Vater hier gelebt hat. Er war Schauspieler, sogar am Burgtheater, aber Sie werden ihn trotzdem nicht kennen. Sogenannte zweite Riege, also einer von denen, die … die in
Hamlet
den zweiten Totengräber spielen.»
«Aha.»
«
Ei, hört doch, Gevatter Schaufler
… Egal. Figuren, an die man sich nicht einmal dann erinnert, wenn man das Stück selbst geschrieben hat. Nichts gegen meinen Vater: Er hat mich ohne Wenn und Aber bei sich aufgenommen, obwohl wir uns das letzte Mal gesehen hatten, als ich drei war. Und er hat mich unterstützt, finanziell jedenfalls. Er hat mehr Geld für mich gehabt als Zeit: Proben, Auftritte, Besprechungen, Partys und Meetings mit wichtigen Theaterleuten. Er war nämlich ständig damit beschäftigt, seinen Aufstieg in die erste Riege zu betreiben. Aber wissen Sie, so funktioniert das nicht in diesem Metier. Je länger du dabei bist und je mehr du dich anstrengst, desto stärker festigst du dein Image als Wasserträger, als Amtsdiener. Von unten geht da gar nichts, das kann man sich abschminken. Genie will gleich von Anfang an locker und leicht aus dem Handgelenk geschüttelt sein. Newcomer, Quereinsteiger, Shootingstars: Was für Politik und Wirtschaft gilt, das gilt für’s Theater gleich dreifach.»
«Verstehe. Und dann?»
«Ich habe das Abi … die Matura gemacht und zu studieren begonnen. Ein Semester Völkerkunde, ein Jahr Publizistik. Dann ein kurzer Ausflug in die Philosophie. Nebenher Kellner, Schildermaler, Gärtner und Billeteur. Später zwei JahreTheaterwissenschaften und ein abgebrochenes Geschichtsstudium. Lupenreine Karriere also. Aber was soll’s? Wenn man sonst nichts gelernt hat, kann man immer noch Schriftsteller werden.»
«Und Ihr Vater? Was hat der dazu gemeint?»
«Ganz genau das.
Wenn man sonst nichts gelernt hat, kann man immer noch Schriftsteller werden
. Dass man auch Schauspieler werden kann, hat er allerdings nicht gesagt. Ich glaube, dass er mir sein Schicksal ersparen wollte: Jahrelang herumtingeln, entwurzelt und getrieben wie diese ausgedörrten Distelgewächse, die man in Wildwestfilmen über die Prärie rollen sieht. Seine Nächte in billigen Hotels verbringen, in fremden, wechselnden Ländern, mit fremden, wechselnden Frauen. Einer davon ein Kind machen, von dessen Existenz man erst erfährt, wenn man längst wieder weitergeweht worden ist. Dann der scheinbar große Wurf, das Engagement ans Burgtheater, und die langsam, fast unmerklich wachsende Enttäuschung: Man wird kein gefeierter Star, man wird nicht berühmt. Man wird als unbedeutender Beamter sterben, als kleiner, einsamer Mensch, der keine Spuren auf dieser Welt hinterlässt …»
«Er hat aber Sie hinterlassen.»
«Das hat er, ja. Er hat mich hinterlassen, kurz vor meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag.»
«Das heißt … Er ist …»
«Nein, er
ist
nicht, er
hat
. Ganz still, beinahe ohne Theatralik. Ich habe damals im sechsten Bezirk gewohnt, mein Vater nach wie vor im achtzehnten. An diesem Abend hat er mich angerufen, was nicht so oft vorkam, und hat mir – nach dem üblichen Austausch obligater Höflichkeiten – gesagt, dass er mich liebt. Er hat das nie zuvor gesagt, und jetzt einfach so, fast beiläufig, ohne Zusammenhang. Es ist mir erst so richtig klargeworden, nachdem wir schon aufgelegt hatten, aber dann – mit aller Wucht – ist die Erkenntnis über mich hereingebrochen …»
«Welche Erkenntnis jetzt genau?»
«Wie traurig er war. Und wie einsam. Ich habe ihn auf der Stelle zurückgerufen, aber er hat nicht abgehoben. Da bin ich zu ihm gefahren … und habe ihn gefunden. Er hat sich am Türstock erhängt. In seinem alten schmuddeligen Schlafrock. Ich seh es noch heute vor mir, dieses Bild, gestochen scharf bis ins letzte Detail: Es war düster, nur eine Schreibtischlampe hat gebrannt. Und mein Vater … Er hatte einen … eine Erektion, groß und rot, die ist ihm vorne aus dem Schlafrock herausgestanden. Das mag jetzt seltsam klingen, aber für mich war das wie eine Warnung, wie …»
«Ein erhobener Zeigefinger?»
«Wenn Sie so wollen, ja. In meiner Erschütterung habe ich das als persönliche Botschaft verstanden. Ich war ja – sozusagen – ein Teil von diesem Steifen, ich bin ja daraus hervorgegangen.»
«Und wie hat die Botschaft gelautet?»
«Mach mir mein Leben nicht nach. Reiß dir nicht den Arsch auf, weil du glaubst, dass alle Welt dich lieben muss: Die
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