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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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in diesem bildungsbürgerlichen Interieur stellt ein kleiner Fernsehapparat dar, der – zwar eingeschaltet, aber lautlos – auf einer dunklen Anrichte sein stummes Dasein fristet. Was umso seltsamer wirkt, als das Bild ein klassisches Orchester in voller Aktion zeigt.
    «Ich wollte mir eigentlich das Konzert anhören. Aber   …» Der Mann zuckt die Achseln und schüttelt den Kopf. Oder besser: Er schüttelt den Kopf und zuckt mit den Achseln. Er schüttelt nämlich den Kopf immer weiter, obwohl er mit dem Zucken schon längst fertig ist. Er schüttelt und schüttelt und schüttelt: ein krankhaftes Muskelzittern, ein Tremor, wie dem Lemming bald klar wird. Auch sonst wirkt sein Retter nicht gerade robust: Obwohl dem Gesicht nach nicht älter als sechzig und von schlanker Statur, verleihen ihm seine langsamen Bewegungen, seine gebeugte Haltung und sein graues, halblanges Haar das Aussehen eines gebrechlichen Greises.
    «Aber es hat ohnehin keinen Sinn», sagt er jetzt leise. «Nichts, was man tun will, hat noch einen Sinn.» Traurig betrachtet er Benjamin, der seinen Blick mit großen, fragenden Augen erwidert. «Aber entschuldigen Sie, ich sinniere da herum und hab mich gar nicht vorgestellt. Klaus Jandula mein Name, sehr erfreut, Herr   …»
    «Wallisch. Leopold Wallisch. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnendanken soll. Dieses Mistvieh hätt uns am End noch zerfleischt.»
    «Mistvieh, ja. Das sind sie beide, der Hund und der Herr   … Möchten Sie vielleicht einen Kaffee, Herr Wallisch?»
    «Sehr gerne, wenn’s keine Umstände macht.»
    Kaum ist Jandula aus dem Zimmer geschlurft, wird Benjamin unruhig. Quengelnd windet er sich in den Armen des Lemming und begehrt mit kurzen, fordernden Lauten, auf den Boden gelassen zu werden. Und weil auf den ersten Blick keine frei liegenden Stromleitungen und Rattenköder, keine für Ben erreichbaren Mingvasen oder Fabergé-Eier auszumachen sind, darf er schon Sekunden später durch die weiche, nach Staub und Zigarrenrauch duftende Landschaft des Fin de Siècle krabbeln.
    «So, bitte.» Jandula stellt das Tablett auf dem Tisch ab, setzt sich und gießt dem Lemming Kaffee ein. Sich selbst hat er keine Tasse mitgebracht: Sein stetiges Kopfschütteln bedarf vermutlich einer besonderen Technik der Flüssigkeitsaufnahme, einer Technik, die wohl nicht eigens vor Publikum demonstriert sein will.
    «Sie kommen also von der Zeitung?» Jandula hebt kurz den Kopf und blickt zur Decke, über die sich ein Krakelee aus feinen Haarrissen zieht. «Sie müssen verzeihen, aber ich habe   … nun, ich habe ein wenig mitbekommen von Ihrem Gespräch da oben. Schlimm genug, dass man schon aufhorcht, wenn’s einmal nichts zu hören gibt.»
    «Das   … versteh ich jetzt nicht. Wie meinen Sie das?»
    Mit einem bitteren Lächeln setzt Jandula zur Antwort an – und presst im selben Moment die Lippen zusammen: ein trotziger Lehrbub, dem von seinem Meister der Mund verboten wird. Nicht er, der Hausbewohner, ist es, der hier die Antworten gibt, sondern es, das Haus, das Bauwerk selbst. Ein langes, rasselndes Seufzen – das Gebäude holt Luft   –, gefolgt von einem kurzen Stöhnen – es räuspert sich   –, dann brichtdie wütende Tirade auf den Lemming, Ben und Jandula ein. Das Mauerwerk erzittert, heftig knirschen die Sparren und Balken, während ein Stakkato donnernder Schläge das Zimmer in Schwingung versetzt. Nur ganz leise ist auch ein helles Geräusch zu vernehmen, ein Klimpern und Klirren, zarte Triangelklänge in dieser düsteren Philharmonie. Es sind Schale und Löffel des Lemming, die einen fröhlichen Tanz auf der Untertasse vollführen, während die Untertasse selbst über den Tisch zu wandern beginnt. Auf dem Bildschirm von Jandulas Fernseher macht sich die Harfenistin gerade zum Solo bereit.
    Der Lemming stimmt nun in Jandulas Kopfschütteln ein. Er deutet entgeistert nach oben, während seine Lippen stumm den Namen
Prantzl
formen.
    «Ja», ruft Jandula, «unsere Sportskanone! Er hat sich oben einen Boxsack aufgehängt! Momentan dürft er sich aber mit Schnurspringen vergnügen!»
    «Aber   … Geht das denn oft so?», fragt der Lemming, doch er kann seine eigenen Worte kaum hören.
    «Was sagen Sie?»
    «Ob das oft so geht!», erhebt nun auch der Lemming seine Stimme. «Der Kerl hat doch einen Beruf, der muss doch arbeiten, an Werktagen wenigstens!»
    «Halbtags, ja! Das heißt, Montag bis Freitag von acht bis zwölf! Davor und danach wird trainiert! Das beginnt schon um

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