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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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nicht klar, mit wem sie spricht. Mit Castro? Mit dem Lemming, der nun auf der anderen Seite des sterbenden Hundes kniet? Mit einem zynischen und gnadenlosen Gott? Oder gar mit sich selbst, der Tierärztin, die nichts ist ohne ihre Instrumente und Arzneien? «Tu doch bitte etwas   … Bitte   …»
     
    Der Lemming weiß nicht, wie lange sie auf das erlösende Ende gewartet haben: Klara betend und flehend, er selbst wie gelähmt, zu keinem Gedanken und keiner Bewegung mehr fähig. Irgendwann hat Castros Zittern nachgelassen. Ein hoher, schier endloser Ton, ein verzweifelter Klagegesang ist der klaffenden Wunde entströmt.
    Dann war es vorbei.
     
    Tu doch bitte etwas.
    Er ist aufgestanden und hinter Klara getreten.
    Tu etwas.
    Er hat Klara sanft bei den Armen genommen. Hat sie langsam zu sich hochgezogen.
    Bitte.
    Er hat nach einem Wort gesucht. Nach dem richtigen Wort.
    «Scheiße aber auch. Das arme Vieh   …» Die Jugendlichen von der anderen Straßenseite sind plötzlich da gestanden und haben Castros Kadaver betrachtet.
    Er hat Klara losgelassen und ist auf die Gruppe zugetreten. «Kracher», hat er gesagt. Leise und ausdruckslos. «Kracher.»
    «Was meinen Sie: Kracher   …?»
    Statt einer Erklärung hat er einen der Burschen am Kragen gepackt, nicht sehr fest und nur mit einer Hand; die andere hat er fordernd aufgehalten. «Kracher.»
    Der Junge hat endlich verstanden. Hat in seine Jackentasche gegriffen und eine Handvoll Böller herausgeholt. «Wir sind das aber nicht gewesen. Ehrlich.»
    «Ich weiß.» Er hat zwei dicke Böller genommen, sie eingesteckt und gleich darauf sein Handy aus dem Hosensack gezogen.
    «Nein   … Nicht die Abdeckerei.» Klara hat den Kopf gehoben, ihr Gesicht eine Wüste: fahl und zerfurcht. Kein Regen, kein Tau, keine Tränen. «Bitte   … Bitte bring ihn nach Hause   …»
    Kein Telefongespräch also. Stattdessen ist er zurück in die Wohnung, Handtücher, Müllsäcke, Klebeband holen. Er hat noch immer nach dem Wort gesucht.
    Tu doch etwas.
    Wenig später hat er begonnen, den toten Körper einzuwickeln. Zuerst in die Handtücher, dann in die Säcke. Hat Klebeband über das Plastik gezogen, dann sich das Blut von den Händen geschrubbt. Mit Schnee. Das Taxi war mittlerweile vom Standplatz verschwunden, also hat er ein anderes gerufen.
    «Haben S’ da eine Leiche oder was?» Die skeptische Frage der Fahrerin, als er das massige, schwere Bündel in den Kofferraum gewuchtet hat.
    Seine Stimme war rau, seine Antwort die einzig vernünftige. «Schwiegermutter», hat er gesagt. Die Frau hat gelacht.
    In Ottakring hat er das Bündel hinter das Haus geschleift, unter den Nussbaum. Castros Lieblingsplatz, im Sommer jedenfalls. Das Schneegestöber ist stärker geworden; bald war nur noch eine schemenhafte Erhebung unter dem blattlosen Baum zu erkennen, ein weißer, unscheinbarer Hügel.
    Im Haus war es warm. Er hat den Abendbrei gekocht und Benjamin gefüttert. Klara hat ihm dabei zugesehen, mit leblosen Augen. Danach hat er Klara und Ben ins Bett gebracht. Sie zugedeckt. Noch immer keine Tränen, auch bei ihm nicht.
    «Ich muss noch einmal weg», hat er Klara zugeraunt. Keine Antwort; vielleicht war sie schon eingeschlafen. Er hat ihr sachte übers Haar gestrichen, eine leise Berührung, und ist aus dem Zimmer gegangen, zurück ins Erdgeschoss.
    Bitte tu etwas.
    Er wusste, wo der Schlüssel ist: in einem Kästchen auf dem Schreibtisch in Klaras Ordination. Er hat die gefüllte Ente aus der Reisetasche genommen – sie hat schon ein wenig gemüffelt   –, ist ins Behandlungszimmer gegangen und hat mit dem Schlüssel den Giftschrank geöffnet. Da stand es, das Fläschchen: Pentobarbital, in verflüssigter Form. Er hat eine Spritze aufgezogen und die Lösung in die Ente gespritzt. Subkutan. Seine Hände haben nicht gezittert. Das Wort ist ihm auf der Zunge gelegen. Er hat die Ente in einen Plastiksack gesteckt und ein Taxi gerufen. An seinem inneren Auge sind zwei Silhouetten vorbeigezogen, die eines Menschen und die eines Tieres. Zwei Schatten, die hinter den Häusern verschwinden   …
    Auf dem Weg durch den Garten zum Taxi ist es ihm eingefallen,das Wort. Er hat es gesagt, zu sich selbst, mehrmals und laut. Das Wort ist in der Luft gefroren.
    «Rache.»
    «Rache.»
    «Rache.»
     
    In der Siebensterngasse wird wieder trainiert: Das Stiegenhaus ist von rhythmischen Stößen erfüllt.
    «Herr Wallisch!» Klaus Jandula steckt seinen schlenkernden Kopf durch den Türspalt; er

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