Lemmings Zorn
… die Alten sind nicht daheim.»
«Vielleicht», gibt Klara nachdenklich zurück. «Ich frag mich nur, warum sie überhaupt … Ich meine: Wenn sie wollte, dass wir sie bekommen, hätt sie dir die Schlüssel einfach geben können, statt sie in Bens Puppe zu stecken. Außer, sie hätte gewusst, dass dafür keine Zeit mehr bleibt …»
«Warte kurz – bleib einmal stehen …», unterbricht jetzt der Lemming.
Er kann sie schon von weitem sehen: eine Gruppe Jugendlicher, die sich an der nächsten Straßenecke versammelt haben. Mit hochgeschlagenen Jackenkrägen stehen sie da, als harrten sie eines geeigneten Opfers für einen kleinen pyrotechnischen Streich.
«Komm, lass uns lieber auf die andere Seite wechseln.»
Gesagt, getan. Klara und der Lemming queren die Fahrbahn, um nun – so wie auch Castro – im Schutz der Mauern vorwärtszuschleichen. Die Blicke argwöhnisch auf den gegenüberliegenden Gehsteig gerichtet, nähern sie sich der Kreuzung und treten schließlich – unbehelligt – auf die Berggasse hinaus.
Erleichterung jetzt, ja zweifaches Aufatmen: Schräg vis-a-vis, am Taxistand, wartet ein Wagen. Der Fahrer döst im warmen Schein der Innenleuchte vor sich hin.
Nachher weiß man immer alles besser.
Nachher weiß man, dass man diesen Pilz nicht essen, jenen Dampfer nicht besteigen hätte sollen. Oder dass man besser auf dem anderen Trottoir geblieben wäre. Nachher weiß man es.
Wenn man dann überhaupt noch etwas weiß.
Ein spitzer, gellender Schrei lässt dem Lemming das Blut in den Adern gefrieren. Er wirbelt herum – da stockt für den Bruchteil einer Sekunde die Zeit. Es ist ein Moment, so gedehnt und dabei so gerafft, dass der Lemming drei Dinge zugleichregistriert: Klaras aufgerissenen Mund, zwei Silhouetten – die eines Menschen und die eines Tieres –, die hinter den Häusern verschwinden und eine kleine glosende Stelle in Benjamins Buggy.
Eine kleine glosende Stelle.
Sie springen synchron, der Lemming und Klara, sie werfen sich über den Kinderwagen, hechten ins dunkle Geviert, in dem dösend der Kleine liegt. Flatternde Hände, einander behindernd, fieberhaft tastend, hastig, gehetzt. Der Lemming erwischt ihn zuerst, den Zylinder, der knisternd in Benjamins Armbeuge liegt: ein Böller, ein böser, roter, daumendicker Böller. Die Lunte sprüht Funken, zischt leise; sie ist beinahe schon abgebrannt. Schon taumelt der Lemming zurück und schleudert den Kracher von sich. In hohem Bogen fliegt jetzt der glühende Punkt durch die Luft, um – kaum zehn Meter weiter – im Schnee zu versinken.
Und wieder ein Schrei.
«Nein!», brüllt Klara. «Nein, Castro! Nein!»
Diesmal bleibt die Zeit nicht stehen. Sie verrinnt nur so langsam, dass sie dem Lemming in der Rückschau wie etwas Klebriges, Zähes erscheinen wird, wie einer jener Albträume, die einem schleppend und träge den Hals abschnüren, weil sie wissen, dass man sich im Schlaf nicht wehren kann.
Castro pflügt durch den Schnee, seine Hinterläufe wirbeln Fontänen von Flocken auf. Mit zornigem Knurren schnellt er vor, springt auf den zischenden Böller los, verbeißt sich darin.
Die Explosion ist leiser als erwartet. Dumpf klingt sie, dumpf wie ein kräftiger Boxhieb gegen einen Sandsack. Grell strahlt dagegen der Blitz durch die Finsternis, er flammt auf und erlischt mit einem hohlen Pfeifen. Dann ist nur noch Castros röchelnder Atem zu hören, stoßweise, gurgelnd: ein flacher, verebbender Klang.
Es ist schon sonderbar, welche Gedanken den Menschen insolchen Momenten erfassen. Wobei es nicht so sehr Gedanken sind, sondern schwirrende Bilder, hilflos mäandernde Assoziationen. Der Lemming sieht einen Weiher, einen Teich aus schwarz gefärbtem Schnee. Darin gebettet die mächtigen Umrisse Castros: ein zitternder Schwimmer, der versucht, das Ufer zu erreichen. Der es vergeblich versucht.
Castro bebt am ganzen Körper, seine Glieder zucken heftig hin und her. Das Röcheln, nun schon ganz leise, dringt ihm direkt aus dem Rachen, aus einer fleischigen, formlosen Höhle unter den Augen. Blut tränkt den Boden des Gehsteigs. Castros erkaltendes Blut. Bis an die Scheiben der geparkten Autos ist es gespritzt.
«Tu doch etwas … Tu doch bitte etwas …» Klaras Stimme ist tonlos. Sie ist neben dem Hund auf die Knie gesunken, kauert im Schneematsch und flüstert in einem fort diesen Satz vor sich hin. «So tu doch etwas …» Den Kopf hält sie gesenkt, von der zerfetzten Schnauze Castros abgewandt; es ist
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