Lemmings Zorn
den Mund zu nehmen und seine juckenden Kiefer daran zu reiben.
Schon hat Ben die Kniescheibe gepackt; schmatzend schiebt er sie zwischen die Lippen. Nur: Es ist nicht Bernatzkys Brille, die er dem Knochen geopfert, die er losgelassen hat. Es ist die Babuschka. Sie trudelt durch die Luft, prallt an der Tischkante ab und schlägt – nach ein paar weiteren Umdrehungen – am Steinboden auf.
«Oje», sagt Bernatzky.
Der Lemming sagt nichts. Er starrt auf den Boden, starrt auf die beiden Teile der entzweigebrochenen Puppe. Starrt vor allem auf das, was zwischen diesen Teilen liegt. Keine weitere, kleinere Puppe, wie man das von Babuschkas erwarten dürfte, sondern – ein Schlüsselbund.
Als der Lemming hinaus auf die Sensengasse tritt, rieselt schon wieder der Schnee. Nicht leise zwar – der Stoßverkehr des frühen Nachmittags hat bereits eingesetzt –, aber dochzumindest weiß. Ben sitzt zufrieden im Kinderwagen und kaut an seinem Knochenstück – Bernatzky hat es ihm geliehen, nachdem ihm der Kleine die Brille wiedergegeben hatte. Geliehen, wohlgemerkt: «Wenn du groß bist und deine eigene Sammlung hast, will ich sie wiederhaben, die Patella. Abgemacht?»
«Uh!», hat Benjamin gesagt.
So ist fast alles da gelandet, wo es hingehört: die Augengläser auf der Nase, die Babuschka im Buggy, die Kniescheibe im Mund. Nur in der Tasche des Lemming steckt ein höchst orakelhafter Gegenstand, dessen wahrer Bestimmungsort ungeklärt ist: drei Schlüssel, auf einen schlichten Metallring gefädelt. Drei Schlüssel, die Angela vor ihrem Tod in der Puppe versteckt haben muss.
Ein letztes Mal dreht sich der Lemming um, betrachtet das hässliche graue Gebäude der Gerichtsmedizin. Was wird wohl aus Watzka werden?, denkt er plötzlich. Wen wird Watzka denn noch frotzeln können, wenn das Institut geschlossen wird? So schwer es dem Lemming auch fällt, sich das einzugestehen, aber: Watzka tut ihm mit einem Mal leid.
Sein Blick streift nachdenklich den zweiten Stock entlang, in dem Bernatzkys Büro liegt. Und wirklich: Hinter einem der Fenster kann er jetzt eine leise Bewegung erkennen. Einen weißen Ärztemantel, einen weißen Bart. Die kreisrunden, spiegelnden Brillengläser hinter der spiegelnden Scheibe.
Der Lemming winkt Bernatzky zu.
Der Alte aber sieht ihn nicht. Das Gesicht den schweren Wolken zugewandt, hebt er nun langsam den Arm, nähert sich die Hand seinem Mund. Ein winziger, glutroter Punkt glimmt auf.
21
Noch knapp vier Tage bis zum Jahreswechsel, und die Stadt riecht schon nach Krieg. In ihren Häuserschluchten hängt der beißende Gestank von Schießpulver.
Seltsam, diese Lust am Knallen, Böllern, Detonieren, dieses Schwelgen im Schlachtengeknatter, diese kollektive Ekstase, fast so, als versänke ganz Wien in sphärisch-sinfonischen Walzerklängen. Dass das konzertierende Orchester aus einer Armee betrunkener Sprengmeister und Pyromanen besteht, scheint dabei nicht von Belang zu sein.
Tiere wissen diesem psychedelischen Feuerzauber in der Regel weniger abzugewinnen, wahrscheinlich deshalb, weil ja Tiere insgesamt kulturlos sind. Castro ist jedenfalls kaum aus dem Haus zu bewegen gewesen, an diesem frühen Montagabend. Geduckt, mit angelegten Ohren, den buschigen Schwanz zwischen die Hinterläufe geklemmt, so drückt er sich jetzt an den Häuserwänden entlang, während Klara und der Lemming schwer bepackt in Richtung Taxistandplatz stapfen, um endlich nach Ottakring zurückzufahren. Dabei ist das Krachen der Silvesterknaller nur gedämpft zu hören wie das Trommelfeuer einer fernen Front. Mag sein, dass Castro instinktiv den historischen Fluch erfasst, der seit jeher auf der Wienerstadt lastet: Ferne Fronten sind ihr noch nie lange ferngeblieben, sie sind über kurz oder lang auf sie zu- und über sie hinweggerollt. Wie auch immer: Noch herrscht relative Ruhe, mag es auch die Ruhe vor dem Sturm sein. Im Laternenlicht wirbeln die Flocken; die Räder von Benjamins Buggy knirschen im frisch gefallenen Schnee.
«Diese Schlüssel», sagt Klara, und ihre Worte kondensieren in der eisigen Luft, «denkst du, es sind die vom Haus ihrer Eltern?»
«Ich weiß es nicht. Aber es würde mich wundern. Wozu sollte sie die Schlüssel
zu
einem Haus
in
diesem Haus verstecken?» Der Lemming verlangsamt seine Schritte, atmet durch – die Last der vollen Reisetaschen fordert ihren Tribut. «Vielleichtsollte ich’s trotzdem probieren. Morgen noch einmal zum Bruckhaufen fahren. Vielleicht hab ich Glück und
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