Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
der Lemming hervor. Seine Knie werden weich; er tastet nach der Schreibtischkante, stützt sich ab: Es ist schon eine Bürde, sich nicht auf den Hintern setzen zu können, wenn eine Welt zusammenbricht.
    «Doch, doch. In die Rente, schon morgen in der Früh. Die Frau Lehner ist meine letzte Kundin gewesen. Übrigens eine durchaus würdige Kundin.»
    «Ja aber   … Was soll denn dann hier werden ohne Sie?»
    «Dieses
Hier
, mein Lieber, geht auch in Pension. Zumindestens ist das geplant. Sie wollen uns – lach jetzt nicht! –
privatisieren
. In ein, zwei Jahren gibt’s das Institut nicht mehr, dann werden die Wiener Kadaver wie Gugelhupfstückerln auf die Spitäler aufgeteilt. Kannst dir vorstellen: Gerichtlich angeordnete Nekroskopien, die in denselben Krankenhäusern vorgenommen werden, in denen die Untersuchten per Kunstfehler abgemurkst worden sind. Praktisch, oder? Da kann man s’ gleich noch einmal um die Ecke bringen: Vom Operationssaal quer über den Gang und direkt in die Prosektur. Die Sensengasse, Wallisch, wird schon bald Geschichte sein, nur hab ich keine Lust zu warten, bis es so weit ist. Ich hab nämlich», Bernatzky räuspert sich, «Respekt vor dem Tod. Immerhin war er mein Leben.»
    «Es tut mir so leid für Sie   … So leid. Was werden Sie jetzt tun? In Hietzing sitzen und den Zügen lauschen?»
    «Aber nein!» Der Alte lacht auf. «Ich werd wahrscheinlich ins Kaffeehaus gehen. Oder auf Reisen. Vielleicht haben s’ ja da unten was für mich zu tun, in Indien oder in Ceylon, nach dem ozeanischen Inferno gestern früh. Oder ich mach was mit Kindern   …» Abermals beugt sich Bernatzky über den Buggy, um Ben zu betrachten – und stößt im selben Augenblick einen lauten Schrei aus.
    Benjamin ist aufgewacht. Mit beiden Fäusten krallt er sich am Bart des Professors fest, um sich daran hochzuziehen: ein Unterfangen, das von den fest verschlossenen Sicherheitsgurten des Buggys vereitelt wird.
    «Lodlo», brabbelt der Kleine fröhlich. «Rodlorodlorodlorodlo   …»
    «Kräftig ist er, unberufen!» Bernatzky ringt die Hände, während der Lemming ihm hastig zu Hilfe eilt. Rasch sind die Gurte gelöst, ganz anders als Benjamins Finger, die sich unerbittlich an die wallende Lockenpracht klammern.
    «Ich glaub, Sie müssen ihn nehmen, Professor.»
    «Du meinst wirklich   … Ich soll   …?»
    Mit der Behutsamkeit eines Archäologen, der die heiligen Gesetzestafeln aus der Bundeslade hebt, umfasst Bernatzky jetzt den Kleinen, birgt ihn aus dem Kinderwagen. Ein leiser Glanz liegt in den Augen des Alten – vielleicht ja nur, weil Ben noch immer ungestüm an seinen Haaren zieht.
    «Warten Sie, Professor. Ich versuch, ihn abzulenken.» Der Lemming nimmt die Babuschka und streckt sie Benjamin entgegen. Immerhin ein Teilerfolg: Wie von selbst lässt eine der zwei kleinen Hände von Bernatzkys Bart und greift nach der Figur.
    «Lokollo   … Udlu   … Uh!» Ben inspiziert die Puppe, fängt an, sie zu schütteln: Ein rhythmisches Rasseln ertönt.
    «Und dann auch noch musikalisch! Wirklich gelungen, Wallisch, dein Kind.»
    Das Rasseln erstirbt. Ben legt den Kopf zur Seite. Freundlichinteressiert blickt er Bernatzky in die Augen, um nun endlich auch die andere Hand aus dessen Bart zu lösen. Blitzschnell reißt er dem Alten die Brille von der Nase.
    «Bravo!», ruft Bernatzky. «Und so aufgeweckt!» Den Kleinen fest an sich gedrückt, umrundet er jetzt seinen Schreibtisch. «Wenn ich nur was hätt für dich   … Ein Spielzeug oder   … Ja! Schau her, du Schlingel, da! Geh, Wallisch, hilf mir kurz   …Nein, nein, den Buben lass mir noch, aber gib ihm doch das dort, das Runde. Nein, weiter rechts   … Ja, genau.»
    Es ist ein flacher, elfenbeinfarbener Gegenstand, den der Lemming nun in Händen hält. Kaum größer als das verlassene Haus einer Weinbergschnecke, haftet ihm etwas Fossiles, Archaisches an. Der Lemming zögert.
    «Na, gib’s ihm schon, nur keine Angst. Verschlucken kann er’s ja nicht.» Bernatzky zieht die Augenbrauen hoch und nickt Benjamin zu. «Pa-tel-la», skandiert er, «Pa-tel-la. Nur eine harmlose Kniescheibe», erläutert er, halb an den Lemming gewandt.
    Welch eine schwierige Entscheidung: Vor sich den lockigen, lockenden Bart, in der einen Hand das funkelnde Brillengestell, in der anderen Angelas russische Puppe. Und jetzt – zu allem Überfluss – dieses schmucklose Ding mit dem samtenen Glanz, ein nie gesehenes Objekt, das wie geschaffen dafür scheint, es in

Weitere Kostenlose Bücher