Lemmings Zorn
Straßenlaternen erhellten Stiegenhaus hat er sich unbemerkt in den dritten Stock gestohlen und starrt auf Herbert Prantzl, der – bewusstlos und gefesselt, also in zweifacher Hinsicht ohnmächtig – zu den Füßen des Lemming liegt. «Jesus Maria … Ist er ’leicht … tot?»
Nicht nur der zum Tritt erhobene Fuß, auch der Mund des Lemming scheint mittlerweile sein Eigenleben zu führen. Als wäre der ganze Mann fernbedient, von einer fremden, numinosen Macht gesteuert. Ein klares, gerades, ein gutes Gefühl ist das, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein, sondern sein Gewissen an den Zorn zu delegieren. «Tot?», gibt nun also der Zorn zurück. «Nein. Noch nicht.»
Im selben Augenblick flackert das Ganglicht auf; aus demParterre hallt das Klappern von Stöckelschuhen, die das Foyer queren, die Treppe emporsteigen. Jandula tritt ans Geländer, späht über die Brüstung. «Das hat uns g’rad noch gefehlt!», zischt er aufgeregt. «Die Wiltschek, die wohnt auch im Dritten!» Ohne lange zu zögern, dreht er sich zum Lemming um und deutet nach unten, auf seine Wohnungstür. «Kommen Sie! Kommen S’, Herr Wallisch! Schnell!»
Treten kann man auch später, entscheidet der Zorn, und der Lemming gehorcht. Die Hände in Prantzls schweißnasse Achselhöhlen gezwängt, zerrt er dessen schlaffen Leib die Stufen hinab, um ihn – in letzter Sekunde – durch Jandulas Tür zu bugsieren: Schon stöckeln draußen die Pumps der Frau Wiltschek vorbei.
«Und was tun wir jetzt?», fragt Klaus Jandula, nachdem er behutsam die Tür ins Schloss gedrückt hat. Er klingt nicht nur äußerst erregt, sondern
freudig
erregt: In seiner Stimme schwingt ein erwartungsvoller, geradezu tatendurstiger Unterton mit.
«
Wir
tun gar nichts», antwortet der Zorn. «Ich kümmere mich allein um die Drecksau.»
«Darf ich dann wenigstens … zusehen?»
«Machen Sie, was Sie wollen. Ist schließlich Ihre Wohnung.»
«Danke, Herr Wallisch …», murmelt Jandula. «Danke, dass Sie sich der Sache annehmen …»
Der Lemming beachtet ihn nicht weiter. Er schleift Herbert Prantzl ins Wohnzimmer, stemmt ihn hoch und wuchtet ihn auf einen der beiden Fauteuils. Ein weiteres Mal greift er zum Klebeband, zieht einen langen Streifen über Prantzls Kiefer und fixiert seinen Kopf an der Rückenlehne. Jandula nimmt inzwischen auf dem anderen Sessel Platz: wenn schon zum Nichtstun verdammt, dann wenigstens erste Reihe Parkett.
Der Lemming steht nun reglos inmitten des Zimmers, er hat die Arme vor der Brust verschränkt und wartet darauf, dassPrantzl zu sich kommt. Mitleid? Nicht im Geringsten. Der Zorn weiß sich wohl zu behaupten, sich selbst zu erneuern: Unablässig zwingt er den Lemming zur Rückschau, unablässig beschwört er die Bilder der vergangenen Stunden herauf und lässt sie neu erstehen: zwei Schatten, die hinter den Häusern verschwinden, das Glimmen im Kinderwagen, die gedämpfte Explosion. Dann das Blut, die zuckenden Glieder, Castros endloser, röchelnder Klagegesang. Und Klaras totes Gesicht … Nein, kein Mitleid. Der Lemming will nur noch eines: ihn sterben sehen. Zusehen, wenn dieses Stück Dreck, dieses stinkende Schwein krepiert.
Lange, schweigsame Minuten vergehen, bis Herbert Prantzl endlich seine Lider öffnet. Er tut es mit der gleichen Langsamkeit, mit der sich auch Theatervorhänge zum ersten Akt zu heben pflegen. Dass er anfänglich nur vor sich hinglotzt, ohne den Lemming wahrzunehmen, mag an einer gewissen geistigen Dumpfheit liegen, sei es nun an einer posttraumatischen oder an einer angeborenen.
«Guten Morgen, du Scheißmensch», sagt der Zorn.
Prantzl zieht die Augenbrauen hoch und sieht den Lemming an. Seine blassgrünen Augen sind eine einzige Frage.
«Da schaust du, gell? Ein Glück nur, dass ich dir dein elendes Maul verpickt hab, weil sonst tät’st gleich wieder nach deinem Hunderl pfeifen, nicht wahr, du Held? Und dann tät sich unser Bertibub schrecken, weil nämlich sein kleines Hunderl nicht und nicht daherkommen würd’. Ja, wo bleibt denn mein Schatzi, tät sich der Bertibub fragen, warum hilft mir denn mein Mamboschatzi nicht und tut den bösen Onkel da ein bisserl beißen?» Der Lemming ist ganz nahe an Prantzl herangetreten; er kann zusehen, wie auf dessen flacher Stirn Myriaden glitzernder Stecknadelköpfe zu Schweißperlen reifen, wie sie sich aufblähen, den Halt verlieren und nach unten kullern. Während er Prantzls Transpiration studiert, spricht der Zorn in ihm weiter: «Aber
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