Lemmings Zorn
ähnelt dabei jenen Stoffhunden, die bei den meisten Automobilisten der siebziger Jahre auf Hutablagen oder Armaturenbrettern befestigt waren. «Was treibt Sie denn um diese Uhrzeit noch zu mir?»
Um diese Uhrzeit. Ja, in der Tat, es ist spät geworden. Kurz vor zehn Uhr abends dürfte es nun sein.
«Nichts. Aber danke, dass Sie mir unten geöffnet haben.» Ohne ein weiteres Wort setzt der Lemming seinen Aufstieg fort; er geht am sichtlich konsternierten Jandula vorbei und nimmt die Treppe in den dritten Stock. Vor Herbert Prantzls Wohnungstür zieht er die Ente aus dem Plastiksack und betätigt die Klingel.
Wieder das wütende Bellen des Hundes, wieder das jähe Verstummen des Quietschens und Stampfens. Wieder die schweren Schritte, die sich von innen her nähern, das linkische Hantieren an der Klinke. Endlich zieht Prantzl die Tür auf.
Ansatzlos drischt ihm der Lemming die Faust ins Gesicht.
Ein flüchtiger Widerstand zwischen den Knöcheln des Ring und des Mittelfingers, dann das kurze und trockene Knacken eines zersplitternden Knochens: kein Fingerglied glücklicherweise, sondern ein Nasenbein. Prantzls Schädel pendelt zurück; gleich darauf auch sein Körper und die signalroten Boxhandschuhe. Mit einem satten, fast schon obszönen Geräusch klatscht Prantzls halbnackter Wanst auf den Boden des Vorraums.
Der Lemming hat keine Zeit, zu triumphieren, zu genießen. Rasch und entschlossen sind seine Bewegungen jetzt, als folgten sie einer lange geprobten Choreographie. Mit der Linken schleudert er die Weihnachtsente in den Korridor – sie segelt über den besinnungslosen Prantzl hinweg und landet auf den Parketten –, mit der Rechten greift er in die Manteltasche, um das Klebeband herauszuholen. Den wachsamen Blick in die Tiefen der Wohnung gerichtet, beginnt er Prantzl zu verschnüren, umwickelt die Fußgelenke, die Beine, heftet die Hände und die Arme an den Rumpf, versiegelt schließlich – mit einer fünffachen Schicht des hellbraunen Streifens – den Mund. Die Augen und die Ohren lässt er frei. Danach schleift er den solchermaßen paketierten Briefträger über die Schwelle ins Treppenhaus.
Das Minutenlicht auf dem Gang ist erloschen; nur ein schmaler Lichtstrahl fällt aus Prantzls Vorraum, in dem die Ente noch immer unberührt am Boden liegt: Es scheint, dass Rambo strikt darauf gedrillt ist, sich dem Eingang nur auf den Pfiff seines Herrchens hin zu nähern. Der Lemming greift nun also nach dem Knauf der Tür und zieht sie so weit zu, dass er das Vorzimmer gerade noch im Blick behalten kann. Dann steckt er zwei Finger zwischen die Lippen und pfeift.
Und wirklich: Schon kommt – durchaus gelassen, weil ahnungslos – der Pitbull um die Ecke getrabt. Kaum aber hat er den Lemming bemerkt, strafft sich sein stämmiger Leib. Mit schlitternden Pfoten und gesenktem Schädel schießt er los, stürmt geifernd dem Feind entgegen, ohne der Ente auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Ganz offensichtlich ist es Menschenfleisch, warmes, lebendiges Menschenfleisch, wonach ihm der Sinn steht, kein totes Geflügel. Man heißt schließlich Rambo und nicht Mambo; man ist ja kein degenerierter, entarteter Jagdhund, sondern die Krone der Kynologie, ein stolzer Vertreter der Herrenrasse unter den Vierbeinern.
Der Lemming kann gerade noch die Tür schließen; heftig erzittert sie, als der Pitbull von innen dagegenprallt und – so klingt es zumindest – die Krallen und Zähne ins Holz schlägt. Knurren, Knarren, Knirschen: blanke Raserei.
Zum ersten Mal seit Stunden sieht sich der Lemming nun ratlos: Der rabiate Köter hat glatt seine Pläne durchkreuzt. Pläne, die ihm jetzt erst so richtig bewusst werden, wie einem etwa ein Regenschirm erst dann bewusst wird, wenn er undicht ist. Castro, so grübelt er, würde ohne zu zögern die gefüllte Ente gewählt haben; Castro hätte sich bereits ins Reich der Träume verfügt. Gleich darauf jedoch blitzt jene stechende, grelle Erkenntnis auf, die sein Bewusstsein noch nicht verinnerlicht hat: die Erkenntnis, dass Castro das Traumreich nie wieder betreten wird, weil er heut Abend auf eine viel weitere Reise geschickt worden ist …
Unwillkürlich hebt der Lemming das Bein, um Prantzl in den Bauch zu treten.
«Herrgott … Was machen S’ denn da!» Man muss es Klaus Jandula lassen: Seine Neugier ergänzt sich perfekt mit dem lautlosen Tritt seiner weichen Pantoffeln. Im schummrigen, nur vom fahlen, durch die Gangfenster dringenden Schein der
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