Lemmings Zorn
glatt in dich verlieben.»
Wie das kribbelt, wenn das Blut aus Armen und Beinen weicht. Wenn es sich in der schreckhaften Art einer Schnecke aus allen Gliedern zurückzieht, um sich im Schädelgehäuse zu sammeln. Der Kopf des Lemming leuchtet in kräftigem Dunkelrot; die Gesichtshaut pulsiert. Ein breites Lächeln liegt auf seinem Mund.
«Und noch was», setzt Klara jetzt nach. «Weil wir gerade dabei sind: Kannst dich erinnern, damals im Mai, wo wir darüber geredet haben, wie der Kleine heißen wird? Ob Breitner oder Wallisch? Weißt du noch?»
Der Lemming grunzt.
«Also, ich wollt dir nur sagen … Von mir aus können wir ihn auch Wallisch nennen …»
Rauschen in den heißen, roten Ohren. Dazwischen ein leichtes Schwindelgefühl, ein trunkenes, durchaus fideles Torkeln der Gedanken: zu viel Blut im Gehirn, ohne Zweifel. «Wie meinst du das jetzt?», krächzt der Lemming.
«So wie du damals, Poldi: Man kann sich ja manchmal zu etwas durchringen … Und wenn wir uns beide … Also wenn wir uns gewissermaßen …» Klara verstummt. Auch ihr Gesicht hat mit einem Mal Farbe bekommen. Gute, frische, rosige Farbe.
«Benjamin Wallisch?», fragt der Lemming leise.
«Benjamin Wallisch», antwortet Klara.
Jener Benjamin, von dem die Rede ist, obwohl ja im Grunde von etwas ganz anderem die Rede ist, jener Benjamin, der so ungefragt als Strohmann für die amourösen Zukunftspläne seiner Eltern herhalten muss, jener geborene Breitner und soeben designierte Wallisch also hat sich unbemerkt davongestohlen. Die russische Puppe liegt verwaist am Boden, und als Klara und der Lemming suchend ihre Blicke schweifen lassen, da finden sie Ben in der Ecke der Küche, gleich hinter dem Herd. Er sitzt in Castros Hundekorb und kaut an seinem Knochen, an seiner geliebten Patella.
Der rosige Teint weicht nun wieder aus Klaras Gesicht. Sie lässt – nicht ohne einen sanften Abschiedsdruck – die Hand des Lemming los. «Ich hab mir heute freigenommen. Wollen wir’s … jetzt gleich erledigen?»
«Ja», seufzt der Lemming. «Bringen wir’s hinter uns.»
Was dem Papst seine weiße Soutane, das ist dem Hund seine Hundedecke: Trautes Gewebe im Leben, würdige Kleidung im Tod. In seine zerschlissene grün-weiße Decke gehüllt, hat Castro seine letzte Ruhestatt bezogen. Über der offenen Grube wiegen sich die kahlen Äste des Nussbaums im Wind: ein leises Adieu für den alten Gefährten, der stets so beflissen die Wurzeln gegossen, den Boden gedüngt hat.
Klara und der Lemming stehen am Rand des Grabs und hängen ihren Gedanken nach; nur Ben, der auf Klaras Arm sitzt, äugt interessiert zum Nachbargrundstück hinüber: Hinter der schütteren Hecke schaufelt ein Mann im gelbgrünen AnorakSchnee; von Zeit zu Zeit hält er inne und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
«Wollen wir ihm noch etwas mitgeben?», fragt Klara jetzt mit feuchten Augen. «Etwas, womit ihm nicht fad wird dort drüben … Seinen Tennisball zum Beispiel.»
«Du hast recht. Ich geh ihn holen.» Der Lemming umrundet die Grube und stapft zum Haus. An der Schwelle der Hintertür klopft er den Schnee von den Schuhen und tritt in den Flur, um im selben Moment – einen heiseren Schrei auf den Lippen – zurückzuzucken.
Im Halbdunkel zwischen den steinernen Wänden des Korridors steht ein hagerer, ärmlich gekleideter Mann. Es ist der Mann, der vorgestern Benjamins Kinderwagen durchwühlt hat, es ist der Zwischenkriegsmann.
Kaum hat er den Aufschrei des Lemming vernommen, dreht er sich um, die Augen erschrocken geweitet. Und wieder gleicht seine Haltung der eines Wildtiers auf nächtlicher Fahrbahn: geblendet, gelähmt in Erwartung des tödlichen Aufpralls. Wäre da nicht dieser Gegenstand, dieses handgranatengroße Ding, das er drohend in seiner erhobenen Rechten hält.
«Machen S’ keinen Blödsinn», stößt der Lemming hervor. «Nur mit der Ruhe …»
Dieses verteufelte Dämmerlicht. Könnten sich die Augen doch ein wenig rascher daran gewöhnen.
«Keine Angst … Ich tu Ihnen nichts …»
Nach und nach erst treten die Konturen in den Hintergrund, gewinnen die Körper an Plastizität, an Farbe und Textur.
«Hören Sie, es gibt wirklich keinen Grund … Für den Fall, dass Sie Hilfe brauchen …»
Die Handgranate glänzt wie frisch poliert. Soweit es der Lemming inzwischen erspähen kann, dürfte sie rot sein – oder wenigstens
teilweise
rot. Er kneift konzentriert die Augen zusammen.
«Schließlich kann man
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