Lemmings Zorn
im Gesicht ist, das ist dem anderen sein schiefer Frnak. Schade nur, dass mein krankhaftes Zittern nicht zu den Insignien der Männlichkeit zählt …»
Während der Lemming das Gespräch mit Jandula Revue passieren lässt, öffnet sich die Hintertür des Hauses: Klara tritt ins Freie. Sie wirkt immer noch schmal und erschöpft, aber nicht mehr so bleich und erschüttert wie gestern. Ein Schritt in die Sonne – schon bleibt sie stehen, schließt die Augen. Lässt sich von den Strahlen wärmen. Auf ihrem Arm sitzt Benjamin, in eine Decke gehüllt. Die Stirn gerunzelt, blinzelt er ins Licht, bis er den Lemming im Schatten des Nussbaums bemerkt. «Ba», ruft der Kleine und grinst.
Auch Klara wendet nun den Kopf. «Guten Morgen», sagt sie leise. «Komm, Kaffee ist fertig.» Ihre Blicke streifen kurz die aufgehäufte Erde, das Grab zu den Füßen des Lemming, dann dreht sie sich um und geht wieder ins Haus.
Es wird ein ausgedehntes Frühstück, wenn auch nur in zeitlicher Hinsicht und weniger in kulinarischer. Kaffee, Kaffee und Kaffee, so lauten die einzelnen Gänge für Klara und den Lemming, Reisschleim, Reisschleim und Reisschleim jene für Ben. Nachdem der Kleine gesättigt und – unter obligatem Gebrüll – von den Essensresten im Gesicht befreit ist, wird er von Klara aus dem Kindersitz entlassen. Die auf dem Holzboden ausgebreitete Decke, Angelas Puppe und Bernatzkys Kniescheibe, mehr braucht er für die nächste halbe Stunde nicht zum Glücklichsein.
«Wenigstens bist
du
nicht zum Mörder geworden», murmelt Klara, nachdem ihr der Lemming den Hergang des gestrigen Abends geschildert hat.
«Wenigstens, ja … Dabei hätt ich geschworen, dass diese zweiGestalten … dass es die Schatten vom Prantzl und von seinem Misthund waren.»
«Irrtum, aber das hätt ich dir gleich sagen können», entgegnet Klara. «Ich hab die beiden nämlich auch gesehen: Die Greißlerin war’s, aus der Glasergasse, die alte Kobernig mit ihrem Pudel. Nein, der Kracher ist von oben gekommen, aus irgendeinem der Häuser, einem der Fenster, vielleicht ja auch von einem Dach.»
«Und du hast nicht erkannt, woher genau?»
«Nein. Aber weißt, im Grunde ist es auch egal. Wenn’s einen im Krieg erwischt, dann sagt man nachher auch: Es waren die Deutschen, die Russen, die Amis. Und nicht: Es war der Hans-Peter Schulze, der Dimitrij Popow, der William Jones. Verstehst du? Es hätte fast jeder sein können, und damit waren es alle gemeinsam. Anzünden und aus dem Fenster damit, ein Riesenspaß für Alt und Jung. Wenn überhaupt, dann gilt das bei uns als Kavaliersdelikt: ein blöder Zufall halt, wenn der Sprengsatz in deinem Kragen landet, im Buggy deines Kindes oder im Maul deines Hundes.»
«Wahnsinn ist das …»
«Du sagst es. Der Wahnsinn hat ihn umgebracht.»
Ein Satz, der den Lemming aufhorchen lässt. «Das Gleiche hat Angelas Vater am Samstag auch gesagt:
Der Wahnsinn hat sie umgebracht
. Und gestern hätt mich der Wahnsinn beinahe zum Mörder gemacht …» Er verfällt in betretenes Schweigen, starrt in seine – schon wieder geleerte – Kaffeetasse. Und er fühlt Klaras Blicke auf sich. Blicke, deren Bedeutung sich ihm wohl selbst dann nicht erschlösse, würde er ihnen begegnen.
«Nein», meint Klara nach einer Weile. «Nein, ich bin dir nicht böse, Poldi.»
«Aber … Ich bin bei dir eingebrochen; ich hab deinen unantastbaren Giftschrank geplündert wie ein mieser kleiner Dieb.»
«Kleiner Dieb, meinetwegen. Trotzdem … großes Herz.» Die letzten Worte hat Klara fast lautlos gesagt: ein Flüstern nur, und doch mit einem warmen Unterton. Jetzt ist sie es, die den Kopf gesenkt hält, während sie weiterspricht. «Weißt, gestern … Ich hätt nicht gewusst, was ich ohne dich machen soll; wahrscheinlich wäre ich durchgedreht und hätte sonst was angestellt, vielleicht ja noch etwas … Schlimmeres als du. Um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung, wie du das alles geschafft hast; nach dem Knall ist mir der Film gerissen. Und heute … Dem Buben ist nichts passiert, wir sind alle drei in Sicherheit, sogar den Castro hast du irgendwie nach Haus gebracht und ihm ein … ein Bett unterm Nussbaum bereitet.» Klara fährt mit dem Finger den Rand ihrer Tasse entlang: einmal, zweimal, dreimal im Kreis. Dann sieht sie den Lemming an, lehnt sich kurz entschlossen über die Tischplatte und nimmt seine Hand in die ihren. «Danke, Poldi. Danke. Wenn ich’s nicht schon wär, ich tät mich
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