Lemmings Zorn
über alles reden …»
Der Körper des Mannes löst sich aus seiner Erstarrung: Er greift nun auch mit der Linken nach der Granate, nimmt sie zwischen die Fäuste und zieht kurz entschlossen den Sicherungssplint: Ein halblautes Klicken ertönt.
«Nicht!», brüllt der Lemming. Er reißt die Arme hoch, stolpert nach hinten, verliert beinahe das Gleichgewicht. Starrt dann wieder ins Dunkel, verstört, irritiert: Warum wirft er denn nicht? Wann wirft er denn endlich? Will er sich selbst in die Luft jagen?
Unerträgliche Stille. Der Hagere steht wieder regungslos, er steht, den Kopf gesenkt, und mustert die Teile des Sprengsatzes in seinen Händen: Fragmente einer vermeintlichen Bombe, deren einzige Sprengkraft darin besteht, dass sie leer ist. Es sind die zwei Teile von Angelas russischer Puppe, die der Mann betrachtet.
«Sie haben sie also gefunden», flüstert er nach einer Weile.
«Gefunden?» Die Stimme des Lemming vibriert.
«Ja. Die Schlüssel, die sie hier reingetan hat.»
«Sie meinen …»
«Ihre Freundin. Angela Lehner. Sie brauchen sich nicht blöd zu stellen, Herr Wallisch; ich bin es auch nicht.» Der Mann tritt langsam aus dem Zwielicht. Seine Züge wirken angespannt ; die Kieferknochen mahlen heftig. «Geben Sie sie mir.»
Erst jetzt registriert der Lemming den ortsfremden Einschlag, den leichten Akzent in der Redeweise des Mannes: Lautverschiebungen des Wiener Idioms, eine latente Verunreinigung mit den sprachlichen Abnormitäten des Norddeutschen. Also doch kein Peter Lorre, denkt der Lemming. Doch ein Erich Kästner.
«Wenn Sie mir die Schlüssel jetzt geben, sind Sie mich für alle Zeiten los.»
«Und wenn nicht?»
«Dann … muss ich sie mir holen.» Ein verzweifelter Untertonmischt sich jetzt in die fordernde Stimme. «Ich bitte Sie, Herr Wallisch. Geben Sie sie mir, sonst …»
«Sonst also! Sonst!», hört sich der Lemming überraschend scharf erwidern. «Sonst was, mein Herr? Jetzt hören Sie gut zu: Wenn Sie glauben, Sie können im Haus meiner Frau einbrechen, meinem Sohn das Spielzeug stehlen, das Begräbnis meines Hundes stören und mich noch dazu bedrohen, dann werd ich Ihnen gleich was anderes geben, nämlich kräftig eins auf Ihre deutsche Fresse!»
Da ist er wieder, der Zorn, ein Zorn jedoch, der nicht so heiß, so furios heranstürmt wie jener des gestrigen Abends. Wahrscheinlich ist es vor allem die Neugier, die ihn zügelt: Hat man es doch hier mit einem Feind zu tun, den man weder vernichten noch in die Flucht schlagen darf. Nein, gefangen nehmen muss man ihn, nach Strich und Faden zermürben und erbarmungslos verhören. «So, und jetzt gehen S’ da hinein !», bellt der Lemming. «Ja, in die Küche! Möchten Sie einen Kaffee?»
Josefine Mallys virtueller Gatte hätte wohl zu anderen Methoden gegriffen. Er wäre – ganz ohne Enthusiasmus, ohne die Freude am Improvisieren – dem nüchternen Regelwerk eines Geheimagenten gefolgt. Vielleicht aber ist es gerade die laienhafte Taktik des Lemming, die nun ihre Wirkung zeigt: Verwundert starrt ihm der Zwischenkriegsmann in die Augen; dann lässt er sich widerspruchslos am Arm nehmen und durch die Küchentür schieben.
«Hinsetzen, dort. Milch und Zucker?»
«Schwarz, bitte …»
«So.» Der Lemming stellt die Tasse auf den Tisch. «Und jetzt sag ich Ihnen, was wir weiter tun: Ich geh zurück in den Garten, und Sie bleiben hier. Sie bleiben hier sitzen und warten und rühren sich nicht von der Stelle. Wenn ich wiederkomme, reden wir. Dann erzählen Sie mir, wo der Hund begraben liegt.»
«Ich dachte, im Garten», murmelt der Mann.
«Schlechter Zeitpunkt, schlechter Scherz, Herr … Wie heißen Sie überhaupt?»
Der Zwischenkriegsmann senkt resigniert den Kopf. «Lehner», sagt er. «Frank Lehner.»
Man ist dann doch nicht in der Roterdstraße geblieben. Kaum waren Castro, seine Decke und sein Tennisball notdürftig mit Erde bedeckt, hat der Lemming Klara möglichst schonend beigebracht, dass ein ungebetener Gast an ihrem Küchentisch sitzt.
«Es ist Angelas … Witwer. Er hat sich eingeschlichen und nach den Schlüsseln gesucht …»
«Mein Gott … Dann hat sie die Angela möglicherweise vor ihm versteckt. Denkst du, dass
er
…?
«Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber trotzdem wär es besser, wenn du mit dem Kleinen hier heraußen wartest. Ich werd versuchen, ihn zu einem Spaziergang zu überreden.»
Schwierig war es nicht, Frank Lehner aus dem Haus zu bewegen. Kaum ist der Lemming
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