Lemmings Zorn
Dreck, diese Ratte krepiert!»
23
«Drei Monate sind es geworden. Den Vorsatz konnte man mir nicht beweisen, die Körperverletzung schon. Ich weiß noch, wie mich die Richterin nach der Urteilsverkündung angeschaut hat: bedauernd, beinahe zerknirscht, als wäre
sie
hier die Schuldige. Und das war sie wohl auch, als Schergin einer Gesetzgebung, die von Ratten für Ratten gemacht ist.»
«Wo hat man Sie eingesperrt?»
«In der Josefstadt, im
Grauen Haus
. Drei Monate: Ich habe im Stillen gehofft, dass ich es vielleicht doch erleben werde, wenn der Kleine laufen lernt.»
«Haben Sie ihn denn gesehen in der Zeit?»
«Anfangs nicht. Da hat ihn meine Frau zu ihren Eltern gebracht, jeden Donnerstag, bevor sie mich besuchen kam. Wir haben das damals so abgesprochen: Immer noch besser, der Bub schnuppert Weihrauch statt Gefängnisluft. Aber er ist unser einziges Thema gewesen, während der dreißig Minuten pro Woche, die wir miteinander reden durften. ‹Stell dir vor, er kann schon wieder etwas Neues! Gestern ist er ganz alleine auf die Couch geklettert!› Oder: ‹Mach dir keine Sorgen ; es ist wirklich nur ein Schnupfen, hat der Arzt gesagt.› Mit dem Warten auf den Donnerstag ist der erste Monat vergangen : sieben Tage Finsternis für eine halbe Stunde Licht. Obwohl …»
«Obwohl?»
«Obwohl ich mich trotzdem gesorgt habe. Gar nicht so sehr um den Kleinen, aber um sie, meine Frau. Wenn man jemandenso selten zu Gesicht bekommt, dann fallen einem Dinge auf, die man sonst gar nicht bemerkt. Ich meine Veränderungen, äußerlich und innerlich … Sie war so blass. So schmal. So müde. Bei jedem ihrer Besuche hat sie erschöpfter gewirkt. Ich habe sie nicht darauf angesprochen: eine weitere Übereinkunft zwischen uns. Wenn ich drei Monate Gefängnis überstehen wollte, ohne durchzudrehen, dann durfte sie kein Wort über die D’Orsaygasse verlieren, kein Wort über die Baustelle, über den Lärm. Und wenn
sie
solange ihre Willenskraft bewahren wollte, durfte ich sie nicht nach ihrer Krankheit fragen.»
«Nach ihrer Krankheit …»
«Ständige Übelkeit, ständige Bauchkrämpfe. Eine chronische Gastritis, die sie schon zweieinhalb Jahre davor bekommen hat. Zu ihrem dauernden Kopfschmerz, ihrem Herzrasen und meiner Impotenz ein weiteres Stück in unserer pathologischen Sammlung … Warum schauen Sie mich so an?»
«Weil … Weil gar nichts. Dürfte ich noch eine Zigarette …?
«Sicher. Und dann sollten wir noch einen Raki nehmen.»
«Ja. Da haben Sie recht.»
«Herr Ober … Zwei noch, bitte …»
«Was ist dann geschehen? Nach dem ersten Monat?»
«Im September ist sie erstmals mit dem Kleinen zu Besuch gekommen. Und er war … Man kann es nicht in Worte fassen. Er ist so … so
schön
gewesen, dass mir fast die Brust zersprungen ist. Waren Sie schon einmal im Gefängnis?»
«Wie soll ich sagen? Also nicht … privat.»
«Hass und Zynismus. Rund um die Uhr. Hinter dir, neben dir, um dich herum. Und
in
dir natürlich. Spätestens nach einem Monat ist dein Herz ein harter, schwarzer Klumpen, ob du es willst oder nicht. Aber dann, inmitten dieses Abgrunds, dieser Unterwelt, taucht von einer Sekunde zur anderen ein Engelsgesicht hinter der Glasscheibe auf. Ein Gesicht, so seidig, so verletzlich und so jenseits aller Bosheit, dass dirblitzartig die Tränen in die Augen schießen. Unwillkürlich denkst du dir: So waren sie alle einmal, die Vergewaltiger, Mörder und Kinderschänder, mit denen du hier deine Tage verbringst. So war ich ja auch selbst einmal. So neugierig und unschuldig und zart wie er, mein Sohn. Er hat mich anfangs nicht erkannt, nur skeptisch durch das Glas geblinzelt: seltsame Männer in seltsamen Trachten, ein seltsamer Ort. Dann dieser seltsame Fremde, der da durch die Scheibe grinst und komische Grimassen schneidet, während die Mama telefoniert. Eine halbe Stunde nur, zu wenig, um ihm ein Lächeln zu entlocken. Aber er war kurz davor; ich hatte ihn fast schon so weit.»
«Warum hat sie ihn mitgenommen?»
«Wegen ihres frömmlerischen Vaters. Der hatte seinen Feldzug gegen mich wohl übertrieben; er hat meiner Frau damit gedroht, einen gerichtlichen Antrag auf Entzug des Sorgerechts zu stellen, wenn sie weiterhin darauf beharre, dem Kind einen Zuchthäusler als Vater zuzumuten. Aber da ist er bei ihr an die Falsche geraten: Sie hat wortlos den Kleinen gepackt und ist mit ihm zu mir ins Graue Haus gefahren. Den Kontakt zu ihren Eltern hat sie damals wieder
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