Lena Christ - die Glueckssucherin
Zweieinhalb Jahre später, am 10. Juli 1918, äußerte sich Peter Jerusalem in einem Brief an Korfiz Holm begeistert über den neuen Roman seiner Frau. Doch der Albert Langen Verlag wollte anscheinend nicht länger auf das Manuskript warten.
Ein Auszug aus dem Fragment mit dem Arbeitstitel »Kaspar Glück und seine Frauen« erschien am 20. Juni 1926, sechs Jahre nach Lena Christs Tod, in der »Einkehr«, der Unterhaltungsbeilage der Münchner Neuesten Nachrichten unter dem Titel »Die Geschichte vom Kaspar und der Heidel. Eine unveröffentlichte Alt-Münchner Geschichte aus dem Nachlass von Lena Christ«. Hauptpersonen des Romans sind der junge Arzt Kaspar Glück, der nach dem Tod seines Vaters mit seiner Mutter zusammenlebt. Die beiden nehmen Kaspars Cousine Adelheid, deren Eltern gestorben sind, in ihr Haus auf. Kaspar und Adelheid – Heidel – werden ein Liebespaar. In der publizierten Szene denkt die Witwe Susanne Glück wehmütig an den frühen Tod ihres Mannes, des Wundarztes Adam Glück, der so vielen Kranken geholfen hatte. »Doch weiter spannen sich beim leisen Ticken der alten Uhr jetzt die Gedanken. Von ihm, dem liebsten Eheherrn zu seinem Sohn! Zu ihrem Kind, dem Kaspar, glitten sie. Zu Kaspar Glück! Ein Lächeln machte ihre müden Züge jung, da sie ihres einzigen Sohnes gedachte. War nicht schon sein Name glückverheißend und bildete er nicht ein gutes Omen für sein ganzes Leben? War er nicht der alleinige Erbe des ganzen alten Glücks?«
Zweifellos wollte Lena Christ mit diesem Text das Glück heraufbeschwören, indem sie den vielen bösen Prophezeiungen und Flüchen, gegen die sie sich in ihrem bisherigen Leben hatte zur Wehr setzen müssen, ein gutes Omen entgegenstellte. Bisher waren all ihre Protagonisten vom Leben Benachteiligte: Heimatlose, Menschen, deren Herkunft im Dunkeln lag, Außenseiter und Überflüssige. Allen Prognosen und Widerständen zum Trotz finden sie für sich eine Fluchtlinie. Sie gelangen letztendlich dorthin, so Peter Jerusalem, »wo es dem Menschen besser geht, unter die Zahl der Begüterten, die die Achtung der Mitwelt genießen, wie die Rumplhanni, die Tochter eines verkommenen Pfannenflickers, oder Ruhm und Ehre, wie der Mathias Bichler, der namenlose Findling, der in Lumpen gewickelt auf einer fremden Türschwelle lag.« Ihre Protagonisten brachte Lena Christ in Sicherheit – anders als sich selbst. Im Gegensatz zu den von ihr geschaffenen Figuren, die zwar zeitweise gefährliche Wege gehen, aber dennoch wohlbehalten an ihr Ziel gelangen, ist sie bis zum Schluss auf der Suche geblieben.
33 Lena Christ, um 1911
Für Jerusalem war es zwangsläufig, dass sie tragisch enden musste, nachdem sie ihn verlassen und sich einem jungen Sänger zugewandt hatte. Der Rivale habe sie mit »trügerischem Schein« geblendet und verführt, ihre eigene »verhängnisvolle Natur« habe sie in die Irre geleitet. Weder habe der Sänger ihre Kunst würdigen noch die damit verbundene Gefährdung erkennen können. Er habe sie lediglich als eine von vielen angesehen, der er auf seinem Weg begegnete und die er mitnahm »zur Kurzweil in müßigen Stunden, wie es dem leichten Sinn dieses fahrenden Sängers entsprach«. Selbstmitleid schwingt mit, wenn er dem Rivalen Ignoranz vorwirft: »Hatte sie doch, oben angelangt, die sichernde und führende Hand losgelassen und sich einem andern in die Arme geworfen, der von dem Besten in ihr nichts wusste, noch von den dunklen Mächten, die sie bedrohten.«
Dabei war es Jerusalem selbst gewesen, der Lena mit dem Sänger zusammenbrachte. An einem Vortragsabend für Verwundete des Landshuter Lazaretts hatten sie Lodovico Fabbri kennengelernt. Er war Kriegsinvalide und arbeitete im Gefangenenlager als Dolmetscher, denn er sprach perfekt Italienisch, Französisch und Deutsch. Laut Jerusalem war er als Kind deutscher Eltern in Italien geboren und liebte es besonders, die Lieder seiner Heimat zu singen und sich dabei auf der Laute zu begleiten. Damit und mit seiner Heiterkeit, seinem mitreißenden Temperament, seiner Schlagfertigkeit und seinem Witz gewann er die Herzen seiner Zuhörer. Solcher Zauberkünste sei er eben nicht mächtig gewesen, vermerkt Jerusalem im Nachhinein nicht ohne Bitterkeit. Damals forderte er Fabbri jedoch auf, sich in seiner Abwesenheit um seine Frau zu kümmern, weil er gemerkt hatte, dass ihr das Zusammensein mit dem lebensfrohen, humorvollen jungen Mann guttat. Fabbri eröffnete ihr eine neue fremde und verlockende Welt und
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